- Fokus: Wahnsinn
X Uetli: Wahnsinn oder nicht?
Mehrmals hintereinander den Zürcher Uetliberg hinauf- und hinunterlaufen – wer von diesem Hobby erzählt, erntet ab und zu ungläubiges Kopfschütteln. Dahinter steckt jedoch mehr als eine sportliche Höchstleistung.
09.12.2025
Alles begann eher zufällig. Der Ausdauersportler Nima Javaheri bereitete sich auf das Finale der Backyard-Ultra-Weltmeisterschaften in Tennessee (Big’s) vor und eröffnete einen WhatsApp-Chat, um Trainingseinheiten zu teilen. Darunter auch ein «10× Uetliberg» – also zehnmal hintereinander auf den Zürcher Hausberg laufen –, was zunächst nur eine Idee blieb. Wenig später betitelte ich einen Lauf auf der Trainingsapp Strava mit «3× Uetli». Nimas Reaktion kam sofort: «Everyone loves 3×.» Meine Antwort: «When do we do 10×?» Nach ein paar Nachrichten und der Begeisterung anderer Freunde war schnell klar: Die Idee wird bald Wirklichkeit werden.
So entstand mehr oder weniger spontan X Uetli: ein einfacher Name für ein einfaches Konzept – gemeinsam den Uetliberg hinauf- und wieder hinunterlaufen, einfach x-mal.
Ein besonderer Berg
Den Ort oder die Route mussten wir nicht wählen. Der Uetliberg ist der Hausberg Zürichs, ein Spielplatz direkt vor der Haustür. Um die Kilometer gering zu halten und einen maximalen Höhenunterschied zu generieren, entschieden wir uns bergauf für den Denzlerweg und bergab für den Laternenweg. Treffpunkt ist immer die Haltestelle Albisgütli, die sehr gut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist und eine öffentliche Toilette und einen Brunnen mit Trinkwasser hat.
Wir organisierten ein erstes «Warm-up» mit 5× Uetli. Schon bei diesem inoffiziellen Event Anfang 2024 kam eine grosse Gruppe zusammen, auch von ausserhalb Zürichs. Der nächste Schritt war naheliegend: ein Community Everesting.
Was ist Everesting?
Everesting ist einfach zu erklären, aber schwer zu schaffen: Man steigt denselben Anstieg so lange hinauf und hinunter, bis 8848 Höhenmeter erreicht sind – die Höhe des Mount Everest.
Das erste Everesting von X Uetli war ein Erfolg. Wenige schafften die ganze Distanz, viele aber die Hälfte, ein paar Runden oder einige Stunden. Genau das ist der Geist von X Uetli: Jede und jeder macht so viel, wie sie oder er möchte – ohne Druck, ohne Wettkampf, einfach aus Freude am Dabeisein.
Vom Gruppenlauf zum Weltrekord
Im August 2024 schrieb Nima Javaheri Geschichte und stellte den Everesting-Weltrekord auf. Zehn Tage lang stieg er ununterbrochen den Uetliberg hinauf und hinunter: 627 Kilometer und 54 641 Höhenmeter – das entspricht sechs aufeinanderfolgenden Everestings. Zehn Tage lang wurde der Uetliberg zum Festplatz: Ein ständiges Kommen und Gehen von Freundinnen, Freunden und Supportern machte aus einer individuellen Leistung ein kollektives Erlebnis.
Eine Gemeinschaft, die über das Laufen hinausgeht
Prägend ist auch die Geschichte von Delia. Sie nahm 2024 an «Witiker Backyard Ultra meets X Uetli» teil und war die Einzige, die ein komplettes Everesting absolvierte – eine sensationelle Leistung für eine so junge Läuferin. Wenig später erlitt sie einen schweren Fahrradunfall, seitdem sitzt sie im Rollstuhl. Beim Wohltätigkeitslauf «Wings for Life World Run», der Gelder für die Rückenmarkforschung sammelt, entstand daraufhin «Wings for Delia»: eine Initiative, die viele Laufgemeinschaften in Zürich und darüber hinaus vereinte. X Uetli half, das Event bekannt zu machen. Über 260 Personen kamen so zusammen, um an diesem Tag gemeinsam zu laufen und Delia symbolisch Flügel zu verleihen. Dieses Erlebnis zeigte uns: Laufen bedeutet – unabhängig von Distanz oder Leistung – in erster Linie Gemeinschaft und Solidarität.
Über sich hinauswachsen – ohne Vergleich
X Uetli ist kein Verein, keine Marke, kein Club. Es ist eine offene Plattform – oder besser gesagt ein Vorwand, um sich zu treffen, zu laufen und die eigenen Grenzen zu suchen. Ultrarunning bedeutet im Kern Gemeinschaft.
Ein Höhepunkt war die Zusammenarbeit mit dem «Witiker Backyard Ultra»: ein Mini-Backyard am Uetliberg. Für alle, die das Format nicht kennen: In einem Backyard läuft man jede Stunde 6,7 Kilometer, bis nur noch eine Person übrig bleibt. Bei uns ging es jedoch nicht um den Wettbewerb: Wir starteten jede Stunde gemeinsam, zwölf Stunden lang – genug für ein halbes Everesting. Später verlegten wir das Format auch nach Davos, um Everesting im alpinen Kontext zu erleben. Nun planen wir einen offiziellen Backyard Ultra am Uetliberg. Der Kurs hat fast 400 Höhenmeter pro Runde und könnte so zu einem der härtesten Backyard-Rennen weltweit werden. Für starke Läuferinnen und Läufer würde das bedeuten: In 24 Stunden ein komplettes Everesting zu schaffen und gleichzeitig 100 Meilen (rund 160 Kilometer) zu erreichen. Zahlen, die wie Wahnsinn klingen – in Wahrheit aber nur eine Einladung sind, gemeinsam Spass zu haben und sich herauszufordern.
Wahnsinn oder Entscheidung?
Von aussen betrachtet mag es verrückt wirken: 20 Stunden oder mehr auf demselben Trail, Hunderte Kilometer, Zehntausende Höhenmeter. Für uns im Ultrarunning ist es kein Wahnsinn. Es ist Leidenschaft, Disziplin, Freundschaft. Vielleicht besteht der einzige Wahnsinn darin, so viel Zeit dieser Leidenschaft zu widmen. Doch jede und jeder ist frei, die eigene Freizeit nach Belieben zu gestalten. Es gibt keine Altersgrenzen, keinen Leistungsdruck: Willkommen sind alle – von der Einsteigerin bis zum Rekordhalter.
So zeigt X Uetli, dass der sogenannte Wahnsinn einfach nur Gemeinschaft und Leidenschaft ist – und eine Art, Körper und Geist fit zu halten.