• Fokus: Wahnsinn

Wahn – ein Begriff zwischen Medizin und Gesellschaft

Kaum ein anderes psychisches Phänomen zeigt so deutlich die enge Verflechtung von Psychiatrie, Kultur und Gesellschaft wie der Wahn. Ein vertieftes Verständnis dafür lässt sich deshalb nur mit der Erforschung mehrerer Ebenen gewinnen.

Personen, die sich merkwürdig verhalten, beschäftigen die Menschheit seit jeher. Dies spiegelt sich auch in der Kunst wider, so etwa in Francisco de Goyas «Casa de Locos». Bild: Francisco Goya, Public domain, via Wikimedia Commons
Personen, die sich merkwürdig verhalten, beschäftigen die Menschheit seit jeher. Dies spiegelt sich auch in der Kunst wider, so etwa in Francisco de Goyas «Casa de Locos». Bild: Francisco Goya, Public domain, via Wikimedia Commons

Wem nicht plausibel erscheint, wie eng die Psychiatrie mit der sie umgebenden Gesellschaft und Kultur verknüpft ist, der wird einen Blick auf das Phänomen Wahn interessant finden. Die innerpsychiatrische Sicht umriss Karl Jaspers (1883–1969) mit der ihm eigenen Dezidiertheit so: «Der Wahn galt durch alle Zeiten als das Grundphänomen der Verrücktheit, wahnsinnig und geisteskrank als dasselbe. Was der Wahn sei, ist in der Tat eine Grundfrage der Psychopathologie» [1]. Aber auch jenseits der Psychiatrie treffen wir verblüffend oft auf diesen Begriff. Ein Beispiel aus der Kunst: «Wahn! Wahn! Überall Wahn!» – so klagt der sonst wohl geerdete und ausgeglichene Schuster Hans Sachs in Richard Wagners Oper «Die Meistersinger» in zunehmender Verzweiflung. Dabei hat er notabene nicht psychotisch erkrankte Menschen vor Augen, sondern uns alle, die «Normalen», die gleichwohl durch Starrsinn, Selbstüberschätzung und Täuschung sich selbst und ihrem Umfeld schaden.

Den «Kosmos» des Wahnbegriffs möchte ich von drei Seiten her beleuchten.

Die historische Dimension

Die Frage des Umgangs mit Personen, die sich «merkwürdig», ausserhalb etablierter Muster verhalten, begleitet die Menschheit seit ihren Anfängen. Das Ungewöhnliche sogleich in die Nähe des Krankhaften zu rücken, war jedoch nicht die Regel: Oft wurde – in heutiger Terminologie – psychotisches Verhalten als Ausdruck einer besonderen Gabe verstanden oder, im Gegenteil, als negatives göttliches Stigma und Strafe für Verfehlungen. Für die betroffene Person konnte das, wie die mittelalterlichen Hexenverfolgungen zeigen, tödliche Folgen haben.

Das Konzept der psychischen Erkrankung, wie wir es heute kennen, wurzelt in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und ist eng verbunden mit der Entstehung der Psychiatrie als wissenschaftlich-medizinische Disziplin [2]. Dieser starke aufklärerische Impuls konnte jedoch nicht verhindern, dass psychiatrisches Wissen weiterhin missbraucht wurde, wie vor allem der Terror gegen psychisch Erkrankte in der Zeit des Nationalsozialismus auf schreckliche Weise belegt.

Aber auch viele wissenschaftliche Aspekte blieben kontrovers, so der Status von Wahn. Seit 1800 schlägt die Forschung hier ganz unterschiedliche Wege ein: Ist das Entgleisen in den Wahn Folge eines verfehlten Lebensentwurfes, wie Autoren des frühen 19. Jahrhunderts dachten? Ist Wahn eine biologische Fehlfunktion des Gehirns, wie die sich auf Wilhelm Griesinger (1817–1868) berufende neurobiologische Neuausrichtung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts postulierte? Bestimmen im Sinne von Sigmund Freud (1856–1939) unbewusste Kräfte, ob und wie wir die Welt im Wahn verkennen [3]? Oder ist Wahn eine – meist mit Leid verbundene – «Antwort» des Menschen auf drängende innere Spannungen, ein genuiner Teil der conditio humana [4, 5]? Begünstigen traumatische Erfahrungen, etwa Entbehrungen im Migrationskontext, die Entstehung psychischer Störungen, auch eines Wahns? Es gibt zu all diesen Ansätzen solide wissenschaftliche Studien, doch existiert keine allgemein akzeptierte Definition von Wahn. Kann es eine solche mit Blick auf das anthropologische Fundament und die unabweisbare Subjektzentrierung dieses Phänomens überhaupt geben [6]?

Die psychiatrische Dimension

Karl Jaspers’ klinischer Pragmatismus gibt bis heute in der Wahndiagnostik den Ton an: Er sah im Wahn eine markante Fehlbeurteilung der Realität, die jedoch als unmittelbar evident erlebt werde, keiner kritischen Nachfrage bedürfe und für die betroffene Person erfahrungsunabhängig («apriorisch») wahr sei. Der Wahninhalt sei unkorrigierbar, auch wenn es noch so gute Gegenargumente gebe.

Gleichwohl verbleiben ungelöste Fragen, insbesondere zu den «Rändern»: Wie kann «echter» Wahn, etwa bei einer Psychose, von ähnlich erscheinenden Phänomenen unterschieden werden, die die Kriterien eines Wahns nicht vollständig erfüllen? Von «überwertigen Ideen» ist dabei die Rede, wenn Vorstellungen, die das Umfeld als einseitig oder übertrieben einschätzt, das Leben einer Person nachhaltig dominieren. Aber ist das schon krankhaft? Wie verhält es sich mit querulatorischen oder fanatischen Menschen, haben deren rigide, kompromisslose Ideen den Charakter eines Wahns [7]? Der fliessende Übergang psychiatrischer Spezialfragen zur gesellschaftlichen und politischen Domäne liegt auf der Hand.

Zurück zur Psychiatrie: Hier sehen sich die traditionelle Krankheitslehre und damit das Wahnproblem erheblich herausgefordert. Die Kritik bemängelt die weiter bestehende Dominanz von Begriffen wie «Schizophrenie» oder «bipolare (früher: manisch-depressive) Erkrankung», die heutigen wissenschaftlichen Anforderungen bei Weitem nicht mehr genügten. Im Sinne einer Emanzipation von der zu stark an der klinischen Symptombeschreibung orientierten ICD-10* müsse sich die psychiatrische Diagnostik systematisch auf neurowissenschaftliche Daten aus Genetik, Physiologie, Neuropsychologie und Verhalten stützen. Nur so, betonen die Kritisierenden, könne auch die Psychiatrie den Schritt zur «precision medicine» vollziehen [8, 9].

Gerade mit Blick auf den Wahn gilt es jedoch, das Risiko zu bedenken, in eine sinnvolle Methodendebatte unreflektierte Werthaltungen zu «importieren». Dies geschieht etwa dann, wenn die Ebene der Subjektivität durch diejenige der neurobiologischen Objektivität nicht nur ergänzt, sondern ersetzt werden soll, weil Ersterer mindestens implizit die wissenschaftliche Relevanz abgesprochen wird. So aber würde eine reiche, therapierelevante Denktradition ad acta gelegt, nur weil sie Tradition ist.

Die gesellschaftliche Dimension

Die Psychiatrie als medizinische Disziplin zu verstehen, bedeutet keineswegs, sie auf einen verengten Krankheitsbegriff festzulegen, der, mit abwertendem Unterton, oft als «medizinisches Modell» bezeichnet wird. Medizin kann sehr wohl (und sollte) breiter verstanden werden als eine Institution, die die erkrankte Person in ihrer Mehrdimensionalität anerkennt [10]. Für die Psychiatrie heisst das, ihre Vernetzung mit der Gesellschaft nicht als Bürde, sondern als Chance zu begreifen, ihre Begriffe kritisch zu reflektieren und wohlfeile Vereinfachungen konsequent abzuweisen: Nonkonformität ist eo ipso keine Krankheit, Misstrauen beweist keinen Wahn, und auch bei einem manifesten Wahn darf die Person nicht auf ihre Krankheit reduziert werden. Kurz: Krankheit zu behandeln und Anderssein nicht zu pathologisieren – darin liegt die gesellschaftliche Verantwortung des Faches. Kaum irgendwo sonst wird dies so deutlich wie im Fall des Wahns.

Résumé in drei Thesen

  • Wahn berührt alle humanwissenschaftlichen Erkenntnisebenen, die biologische, psychische und soziale. Er kann (und sollte) auf jeder dieser Ebenen erforscht werden, kann aber niemals auf einer dieser Ebenen allein vollständig erklärt werden.
  • Wahn hat immer auch eine interpersonale Dimension. Ihn zu einem rein objektiven Gegenstand zu machen, zu «reifizieren», führt in die Sackgasse.
  • Wahn ist ein pathologisches, aber nicht nur ein defizitäres Phänomen. Er verweist auf Reaktionen und Anpassungsleistungen der betroffenen Person auf verstörende Wahrnehmungen, Emotionen und Denkinhalte. Hier ergeben sich psychotherapeutisch fruchtbare Ansatzpunkte.

Literatur

  1. Jaspers K (1946) Allgemeine Psychopathologie, 4. Aufl. Springer, Berlin.
  2. Hoff P (2023) Arthur Kronfeld und die Identität der Psychiatrie – Denkwege vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Kohlhammer, Stuttgart.
  3. Freud S (1911) Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (dementia paranoides). In: Gesammelte Werke VIII. Fischer, Frankfurt am Main, 1978, S. 239–320.
  4. Binswanger L (1965) Wahn. Neske, Pfullingen.
  5. Blankenburg W (1992) Analysen der Verselbständigung eines Themas zum Wahn. In: Kaschka WP, Lungershausen E (Hrsg.) Paranoide Störungen. Springer, Berlin, S. 17–32.
  6. Hoff P (2016) Ist Wahn ein sinnvoller wissenschaftlicher Begriff? Eine Reflexion über die Psychopathologie in der Psychiatrie des 21. Jahrhunderts. Nervenarzt 87:69–73.
  7. Sass H (2010) Der Exzess einer Tugend. Querulanz zwischen Persönlichkeit, Strukturverformung und Wahn. Forens Psychiat Psychol Kriminol 4:223–232.
  8. Insel T, Cuthbert B, Garvey M et al. (2010) Research Domain Criteria (RDoC): Toward a new classification framework for research on mental disorders. Amer J Psychiatry 167:748–751.
  9. Insel T, Cuthbert B (2015) Brain disorders? Precisely. Precision Medicine comes to psychiatry. Science 348:499–500.
  10. Scharfetter C (2011) Spurensuche in der Psychopathologie. Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels.
  11. World Health Organization (WHO) (1991) Tenth Revision of the International Classification of Diseases, Chapter V (F): Mental and behavioural disorders (including disorders of psychological development). Clinical descriptions and diagnostic guidelines. Geneva. [Deutsch 1991: ICD-10. Huber, Bern Göttingen Toronto].
  12. World Health Organization (WHO) (2019) ICD-11: International Classification of Diseases for Mortality and Morbidity Statistics. Eleventh Revision. Reference Guide. WHO, Geneva.
  13. American Psychiatric Association (APA) (2022) Diagnostic and statistical manual of mental disorders. 5th ed., text revision (DSM-5-TR). APA Press, Arlington VA.