• Fokus: Wahnsinn

Jenseits der Vernunft

Der Wahnsinn als Gegenstück zur Vernunft ist in der westlichen Philosophie allgegenwärtig, das Verhältnis dazu ambivalent. Was dieses Spannungsfeld ausmacht und warum sich Wahnsinn und Vernunft nie ganz trennen lassen, erläutert der Philosoph und Psychiater Daniel Strassberg im Gespräch.

Was ist vernünftig, und wo beginnt der Wahnsinn? Eine Frage, die die westliche Philosophie seit Jahrhunderten beschäftigt. Bild: Adobe Stock / Jorm Sangsorn
Was ist vernünftig, und wo beginnt der Wahnsinn? Eine Frage, die die westliche Philosophie seit Jahrhunderten beschäftigt. Bild: Adobe Stock / Jorm Sangsorn

Daniel Strassberg, in Ihrem Werk «Der Wahnsinn der Philosophie – Verrückte Vernunft von Platon bis Deleuze» skizzieren Sie den Versuch verschiedener Denker über Jahrhunderte hinweg, die Vernunft vom Wahnsinn abzugrenzen. Woher kommt diese anhaltende Faszination?

Zum einen ist die Vernunft das Hauptgeschäft der westlichen Philosophie. Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er Vernunft hat oder zumindest imstande ist, diese zu erlangen. Wenn aber nun die Vernunft zum Menschen gehört, wie kann es dann sein, dass sie bei manchen Menschen verloren geht? Die Tatsache, dass manche Menschen sich merkwürdig und nicht vernünftig verhalten, stellt dieses Selbstverständnis der Philosophie infrage, und nur mit der Abgrenzung vom Wahnsinn – dem Gegenstück der Vernunft – lässt sich diese schützen.

Und zum anderen?

Zum anderen besteht ein merkwürdiges, ambivalentes Verhältnis zum Wahnsinn, was sich auch schon in unserer Sprache zeigt. Bis ins 20. Jahrhundert war etwa das Wort «toll» ein Synonym für «geisteskrank», heute bedeutet es «grossartig». Und auch die Wörter «wahnsinnig» oder «Wahnsinn» können je nach Kontext positiv oder negativ konnotiert sein. Trotz des Versuchs, das Unvernünftige auszuschliessen, wird dem Wahnsinn ein tieferes Wissen unterstellt. Die Vernunft ist anstrengend, man muss denken, diskutieren. Die Vorstellung, dass es etwas jenseits der Vernunft gibt, was einen unmittelbaren Blick auf die Wahrheit ermöglicht, gibt es schon lange – und sie ist auch heute noch aktuell. Nehmen wir beispielsweise die vielen fiktiven Detektive und Polizistinnen, die autistische Züge aufweisen und dadurch einen direkteren Blick auf die Geschehnisse haben.

Stichwort Genie und Wahnsinn. Inwieweit entspricht diese Vorstellung der Realität?

Ein Genie zeichnet sich dadurch aus, dass es unkonventionelle Wege geht; Wege, an die niemand anders zuvor gedacht hat, und auch der Wahnsinn bewegt sich ausserhalb der gesellschaftlichen Konventionen. Ob eine Person als genial oder als wahnsinnig wahrgenommen wird, entscheidet schliesslich der Erfolg. Dennoch bin ich diesem Mythos gegenüber skeptisch. Denn beispielsweise eine Psychose – das, was wir im medizinischen Sinn heute am ehesten als Wahnsinn bezeichnen – ist nicht an sich kreativ, sondern es gibt wie bei den Gesunden auch spannendere und langweiligere Menschen.

Bei der Unterscheidung zwischen Genie und Wahnsinn entscheidet also der Erfolg. Doch wer bestimmt, wo diese Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn liegt?

Es sind in der Regel gesellschaftliche Konventionen, teilweise auch ökonomische Interessen, die bestimmen, was vernünftig und was unvernünftig ist. Dies ändert sich jedoch von Kultur zu Kultur und von Epoche zu Epoche. Bis ins 18. Jahrhundert, bevor die Medizin die Definitionsmacht über den Wahnsinn erlangte, lag diese bei der Polizei: Wer als wahnsinnig galt, wurde ohne Therapie weggesperrt. Und auch das, was wir unter «Wahnsinn» subsumieren, verändert sich. Eine Anekdote: Der englische Arzt und Philosoph John Locke, der im 17. Jahrhundert lebte, war nach einem Aufenthalt in London entsetzt darüber, wie viele Wahnsinnige es dort gebe – und sein Hauptbeispiel dafür war, dass manche Menschen ohne Hut herumliefen. Die Abgrenzung vom Wahnsinnigen gibt es, seit es die Vernunft gibt, aber der Blick darauf verändert sich. Dies zeigt auch ein Beispiel aus der Psychotherapie, wo nun vermehrt Psychedelika eingesetzt werden. Was lange zur Seite des Unvernünftigen gehörte, wird nun sogar in der Therapie verwendet. In diesem Fall sind es aber vermutlich nicht so sehr gesellschaftliche Konventionen, die zu diesem Umbruch geführt haben, sondern eher die Interessen der Pharmaindustrie.

Ist es – philosophisch betrachtet – überhaupt möglich, die Irrationalität jemals aus der Vernunft auszuschliessen?

Nein. In der Philosophie gibt es einen dauernden Versuch dieser Abgrenzung, der aber zwangsläufig scheitert. Vielleicht müssen wir hier kurz anschauen, wie Vernunft und Wahnsinn in der westlichen Philosophie verankert sind. Lassen Sie mich etwas ausholen?

Gerne.

Der antike Philosoph Porphyrius machte im dritten Jahrhundert den Versuch, die Vernunft zu beschreiben und Platon mit Aristoteles zu verbinden. Etwas zu verstehen, bedeutete für ihn, etwas richtig zuzuordnen und gleichzeitig von ähnlichen Dingen zu unterscheiden, gemäss der klassischen Definitionsregel genus proximum et differentia specifica. Konkret gesagt bedeutet dies: Ich weiss, dass der Apfel in die Früchteschublade gehört, kann ihn jedoch von der Birne unterscheiden. Diese Vorstellung der Vernunft ist zwar sehr ordentlich, jedoch auch sehr statisch. Sie umfasst beispielsweise keine Veränderung und auch das nicht, was uns Menschen als Einzelpersonen ausmacht, das Individuelle. Alles, was aus dem Raster fällt, lässt sich mit dieser Vernunft nicht fassen und fällt als Wahnsinn weg. Das ist das Hauptproblem der westlichen Philosophie, an dem sie sich seitdem abarbeitet. Und diese Grundvorstellung sind wir nie mehr ganz losgeworden: Um etwas zu verstehen, müssen wir es zunächst definieren. Aber wie kann man über das, was sich ausserhalb der Vernunft befindet, vernünftig sprechen? Entweder man schweigt – gemäss Ludwig Wittgenstein – über das, worüber man nicht sprechen kann, oder man hält es wie Theodor W. Adorno und sieht die Philosophie als Anstrengung, das zu sagen, wovon man nicht sprechen kann. Dabei wird es jedoch stets bei der Anstrengung, also beim fortwährenden Versuch, bleiben.

Zur Person

Daniel Strassberg, geboren 1954 in St. Gallen, hat in Zürich Medizin und Philosophie studiert. Seit 1985 arbeitet er als Psychoanalytiker in eigener Praxis. Daneben unterrichtete er an verschiedenen Universitäten und veröffentlicht Bücher und Artikel aus dem Grenzgebiet von Philosophie und Psychiatrie. Einmal monatlich erscheint eine Kolumne in der «Republik». In Kürze erscheint bei Matthes & Seitz ein Buch über den Talmud.

Publikationen (Auswahl): Der Wahnsinn der Philosophie, Chronos 2014; Spektakuläre Maschinen, Matthes & Seitz 2022; Der Teufel hat keine Zeit, Rotpunkt 2022.