- Fokus: Wahnsinn
Vom Teufel besessen?
Dämonische Deutungen gibt es nicht nur bei tiefreligiösen Menschen. Was löst solche Interpretationen aus? Und wie können Ärztinnen und Ärzte damit umgehen? Der Psychiater Samuel Pfeifer hat sich intensiv mit solchen Fragen beschäftigt.
09.12.2025
Ende 2024 hat das Bistum Lugano für Schlagzeilen gesorgt, weil es einen neuen Exorzisten angestellt hat. Die Begründung: Es bestehe ein grosses Bedürfnis danach. Samuel Pfeifer, was bringt Menschen zur Überzeugung, der Teufel stecke in ihnen?
Dämonische Deutungen entstehen bei Menschen mit verschiedensten psychischen Zustandsbildern. Der grosse gemeinsame Nenner ist jedoch die Angst – und zwar eine intensive, überwältigende Angst, die als ich-fremd erlebt wird. Solche Ängste können beispielsweise bei einer Panikattacke auftreten oder im Rahmen einer schweren emotionalen Instabilität. Auch Verhaltensstörungen mit einem unverständlichen Hass auf nahestehende Menschen und Wahnerkrankungen, die von Halluzinationen und dem Hören von Stimmen begleitet sind, können betroffene Menschen stark verunsichern und zum Gefühl führen, dass nicht mehr sie selbst ihre Gedanken und Handlungen lenken können. Dies erleben manche Menschen als so unheimlich, dass sie oder manchmal auch ihre Angehörigen den Eindruck gewinnen, es müssten fremde Kräfte im Spiel sein.
Liessen sich diese Erkrankungen und Symptome nicht medizinisch erklären?
Ich werde oft von Menschen gefragt: «Wie kann ich mir meinen Zustand oder meine Gefühle erklären?» Leider kann ich als Psychiater trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte nicht immer genaue Erklärungen liefern. Beispielsweise was die Funktionsweise von Neurotransmittern angeht, müssen wir – wenn wir ehrlich sind – zugeben, dass wir weder alles nachvollziehen noch alles mit persönlichen Angsterfahrungen korrelieren können. Und leider helfen auch Medikamente nicht immer so gut, wie wir es uns wünschen würden. Aus diesen Erfahrungen heraus beginnen manche Menschen, ihre eigenen Theorien zu entwickeln.
Ist eine starke Verankerung im Katholizismus Voraussetzung für dämonische Deutungen?
Nein, und solche Deutungen finden sich auch nicht nur im christlichen Kontext. Beispielsweise im Islam werden psychische Störungen teilweise durch den Einfluss eines Dschinns gedeutet, und auch in esoterischen Kreisen ist der Glaube verbreitet, dass negative Energien vorhanden sind und es ein Ritual braucht, um deren Einfluss zu brechen. Sogenannte Befreiungsdienste gibt es in verschiedensten Subkulturen.
Sie selbst sind Psychiater und gleichzeitig gläubiger Christ. Wie stehen Sie persönlich zu solchen Befreiungsritualen, beispielsweise einem Exorzismus?
Ich habe mich viel mit diesem Thema beschäftigt und vor vielen Jahren auch eine breite Untersuchung dazu gemacht [1]. In all dieser Zeit habe ich jedoch noch nie eine Situation erlebt, in der ich das Gefühl hatte, dass da wirklich ein böser Geist am Werk ist. Letztlich ging es immer um Menschen, die gewisse Symptome einer Krankheit als sehr fremd und beängstigend erlebten und nach einer Deutung dieser Erlebnisse suchten. Auch gewisse Reaktionen während Befreiungsritualen – beispielsweise Schreien und Treten, die als Beweis für die Besessenheit gedeutet werden – sind wissenschaftlich erklärbar. Der Rhythmus einer Befragung oder Beschwörung kann die Atmung beeinflussen. Und bestimmte Atemtechniken, wie das holotrope Atmen, können zur Ekstase führen. Sie sehen also, ich habe grosse Zweifel an dämonischen Deutungen. Doch gleichzeitig stellt sich für mich die viel wichtigere Frage: Wie sprechen wir mit Menschen, die an ihre Besessenheit glauben? Sagen wir ihnen, dass sie sich alles nur einbilden?
Das wäre wohl eher kontraproduktiv, oder?
Genau, damit würde man diese Menschen nur noch mehr in die Arme von Exorzisten oder Heilerinnen und Heilern treiben. Wie schlagen wir also die Brücke von der wissenschaftlichen Psychiatrie hin zum ganz individuellen Erleben der Betroffenen?
Wie tun Sie dies?
Ich versuche, das Leiden meiner Patientinnen und Patienten sowie ihre Suche nach einer Ursache dafür ernst zu nehmen, und frage nach, warum sie einen bösen Geist vermuten. Gleichzeitig möchte ich ihnen sinnvolle Alternativen zur dämonischen Deutung vermitteln. Diese Psychoedukation hat das Ziel, Symptome verständlicher zu machen und damit von der dämonischen Deutung zu entkoppeln. Der Zuspruch, die alternativen Erklärungen und bei Bedarf eine ergänzende Medikation haben oft schon einen beruhigenden Effekt.
Wie reagieren Sie, wenn eine Patientin oder ein Patient gleichzeitig zur Therapie noch Befreiungsangebote in Anspruch nimmt?
Das ist eine schwierige Frage, und der Umgang damit braucht viel Fingerspitzengefühl. Zu viel Druck auszuüben und damit einen Therapieabbruch zu riskieren, ist in den meisten Fällen wohl nicht der richtige Weg. Wichtiger ist die Kontinuität der Betreuung, um auch erkennen zu können, wann eine Parallelbehandlung gefährlich wird. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn eine Heilerin oder ein Heiler die betroffene Person ermutigt, ganz auf die heilenden Kräfte zu vertrauen und die Medikamente abzusetzen.
Zur Person
Samuel Pfeifer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, war 25 Jahre lang Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie «Sonnenhalde» in Riehen bei Basel. Er hat mehrere Bücher und zahlreiche Artikel im Bereich Klinische Psychiatrie, Psychotherapie und Spiritualität veröffentlicht, u. a. mit Utsch und Bonelli das Buch «Psychotherapie und Spiritualität» (Springer). Von 2015 bis 2020 lehrte er als Professor im Masterstudiengang Religion und Psychotherapie der Evangelischen Hochschule in Marburg, seither ist er in freier Praxis tätig und hat während Corona seinen eigenen YouTube-Kanal gestartet. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne.
Literatur
- Pfeifer S (1994) Belief in demons and exorcism. Br J Med Psychology 67:247–258. Online: https://www.seminare-ps.net/_MAT/Okk/Belief_in_demons_and_exorcism.pdf