- Politik
Im Auge des SIWF-Sturms
Die Bearbeitungszeiten bei Titelgesuchen beschäftigen den vsao schon seit Langem – zuletzt akzentuierte sich die Krise allerdings noch einmal massiv. Die Ärztekammer verabschiedete am 6. November nach vsao-Anträgen eine Kompromisslösung. vsao-Präsident Severin Baerlocher und Vizepräsident Richard Mansky erklären, wie es dazu kam und was nun erwartet werden kann.
28.11.2025
Severin, du hast am standespolitischen Seminar des vsao zur Vorbereitung der Ärztekammer starke Metaphern benutzt. Unter anderem hast du davon gesprochen, der vsao befinde sich im Auge des Sturms. Was hast du damit gemeint?
Severin Baerlocher (SB): In den Wochen vor der Ärztekammer befanden wir uns tatsächlich im Auge des Sturms. Es gab trotz unserer seit Januar laufenden Bemühungen keinerlei Fortschritte bei den Bearbeitungszeiten bei Titelgesuchen im SIWF – im Gegenteil. Die Bearbeitungszeit stieg zuletzt auf etwa zwölf Monate an. Dadurch stieg der Druck vonseiten der betroffenen Mitglieder und der Sektionen auf uns als Dachverband. Es formierte sich auch eine autonome Gruppe, die einen Verein gründete, um Schadenersatzklagen an das SIWF zu richten. Wir reagierten mit einer verstärkten Kommunikation und zwei offenen Briefen an die FMH und an das SIWF, zusätzlich zu den bereits gestellten Anträgen zuhanden der Ärztekammer. Besonders unser zweiter offener Brief kam bei der FMH und anderen Basisorganisationen nicht gut an. Uns wurde vorgeworfen, eine Spaltung der Ärzteschaft zu riskieren, und von verschiedenen Seiten erhielten wir Gegenwind.
Richard Mansky (RM): Und es drohte das Worst-Case-Szenario: dass wir mit unseren Anträgen an der Ärztekammer scheitern würden. In diesem Fall wäre der vsao innerhalb der Ärzteschaft isoliert gewesen, und wir wären mit leeren Händen dagestanden – hätten für die betroffenen Mitglieder nichts erreicht. Deshalb sind wir froh, dass es gelungen ist, eine sinnvolle Kompromisslösung auszuhandeln. Diese ist in unseren Augen ein wichtiges Signal an alle Betroffenen.
Der Kompromiss, den ihr ansprecht und der von der Ärztekammer beschlossen wurde, ist von aussen betrachtet nicht berauschend, oder?
RM: Es ist ganz klar der bestmögliche Kompromiss, den wir erreichen konnten. In unseren Anträgen hatten wir mehr gefordert. Wir wollten einen vollständigen Gebührenerlass ab drei Monaten Wartezeit. Erreicht haben wir eine 50-prozentige Reduktion für alle, die länger als sechs Monate warten. Wir wollten auch, dass die FMH Mittel bereitstellt für Betroffene, die aufgrund der Wartezeit in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Dies war nicht zu erreichen.
SB: Wie das üblich ist, haben wir im Vorfeld der Ärztekammer viele Gespräche mit den anderen Organisationen geführt, die in der Ärztekammer vertreten sind. Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass unsere Maximalforderungen keine Chance hatten. Wenn wir nicht auf den Kompromissvorschlag eingegangen wären, hätten wir nichts erreicht. So haben wir nun immerhin die erwähnte Reduktion, wohlgemerkt für alle, deren Titel nach dem 1. Januar 2025 und mit mindestens sechs Monaten Wartezeit erteilt wurde. Ausserdem haben wir – da unsere anderen beiden Anträge sehr deutlich angenommen wurden – ein klares Bekenntnis der Ärztekammer, dass sie sich für die Bewältigung der Krise und eine verbesserte Kommunikation engagiert und dass die FMH das SIWF dabei unterstützt.
Was können Betroffene nun erwarten?
RM: Die FMH hat es in ihrer Kommunikation klar gesagt: Die pendenten Gesuche können nicht alle in kürzester Frist abgearbeitet werden. Zwar hat das SIWF nun Unterstützung, aber es braucht Zeit, bis die angestrebte Bearbeitungsdauer von 90 Tagen erreicht wird. Wir erwarten dazu in der nächsten Zeit eine verbesserte Kommunikation des SIWF, sodass Gesuchstellende jederzeit differenzierte Rückmeldungen zum Bearbeitungsstand ihres Dossiers erhalten können.
SB: Zudem setzen wir uns gemeinsam mit der FMH bei Spitälern und Kantonen für Übergangslösungen ein, sodass zum Beispiel eine Oberarztstelle vorübergehend auch ohne Facharzttitel angetreten oder die Arbeit in Praxen dennoch aufgenommen werden kann. Da die Bearbeitungszeiten nicht von heute auf morgen sinken werden, ist es für die Betroffenen essenziell, flexible Lösungen zu finden, wie sie in einigen Kantonen und Spitälern bereits in Kraft sind.
Was ist mit denjenigen, die schon lange warten und teils erhebliche finanzielle Schäden erlitten haben?
SB: Uns ist bewusst, dass einige teilweise relevante finanzielle Einbussen erlitten haben. Dabei geht es auch um Schadenersatzklagen, die vor allem vom Verein «Relève Médicale Suisse» angestrebt werden. Am Ende wird jeder einzelne Fall geprüft werden müssen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist völlig unklar, wie die Chancen auf einen Erfolg stehen. Die gesamten Kosten sind bei solch einem Verfahren je nach Ausgang ebenfalls unklar. Klar ist einzig, dass diese Schadenersatzklagen in keiner Weise zu einer beschleunigten Erteilung der Facharzttitel führen werden.
Teilweise ist der Eindruck entstanden, der vsao sei in der SIWF-Krise zu passiv und kümmere sich zu wenig um die Anliegen seiner Mitglieder. Warum kam es dazu?
SB: Wir waren immer überzeugt, dass das Problem innerhalb der FMH gelöst werden muss und kann. Es ist ein Privileg, um das uns europäische Kolleginnen und Kollegen beneiden, dass die ärztliche Weiterbildung in den Händen der Ärzteschaft liegt. Das soll weiterhin so bleiben. Wichtig war deshalb der partnerschaftliche Dialog in unseren Gremien. Wir wirken seit Langem im Hintergrund, führen Gespräche und stellen Anträge in den FMH- und SIWF-Gremien. Das Problem daran war, dass wir dies aufgrund der Vertraulichkeit nicht immer nach aussen kommunizieren konnten.
RM: Nach der Ärztekammer im Juni sind wir davon ausgegangen, dass das SIWF das Problem nun in den Griff bekommen wird. Dies war leider nicht der Fall. Im Herbst waren die Zahlen zu unbearbeiteten Titelgesuchen und Wartezeiten so alarmierend, dass wir noch einmal einen Gang höher schalten mussten. Daher kam es zu den offenen Briefen.
Wie steht ihr zum Verein «Relève Médicale Suisse», der Anfang Oktober entstand und der den vsao auch hart kritisiert hat?
RM: Diese Gruppe wurde von betroffenen Ärztinnen und Ärzten gegründet, die genug von der Warterei hatten und den juristischen Weg einschlugen. Sie haben dann die Aufsichtsbehörden eingeschaltet. Ich verstehe, dass sie diesen Weg beschreiten, der kurzfristig gesehen individuelle Erfolge bringen kann. Wir müssen jedoch auch die zukünftigen Ärztinnen und Ärzte im Blick haben. Die ärztliche Weiterbildung soll weiterhin in den Händen der Ärzteschaft bleiben. Das SIWF soll Teil der FMH bleiben, und die Bearbeitungszeiten müssen nachhaltig sinken. Das gelingt am besten, indem wir versuchen, die Krise konstruktiv innerhalb der FMH gemeinsam zu lösen.
Wie ist es überhaupt so weit gekommen, dass die Bearbeitungsdauer bei Titelgesuchen so stark angestiegen ist, auf aktuell rund zwölf Monate?
SB: Das ist tatsächlich nicht nachvollziehbar. Lange wurde uns versprochen, dass das SIWF auf einem guten Weg sei. Trotzdem wurde die Bearbeitungszeit immer länger. Deshalb braucht es nun die externe Untersuchung der Vorgänge im SIWF, die von der Ärztekammer ebenfalls beschlossen wurde. Der Aufarbeitungsprozess ist wichtig, um solch eine Krise in der Zukunft um jeden Preis zu verhindern.
Ihr seid beide erst seit kurzer Zeit Präsident bzw. Vizepräsident des vsao. Die SIWF-Krise hat euch sehr stark beansprucht. Worauf freut ihr euch, wenn dieses Thema weniger Raum einnimmt?
RM: Die SIWF-Krise ist ja noch nicht vorbei, aber wir hoffen tatsächlich, dass wir uns nun auf einem guten Weg befinden. Ich freue mich vor allem darauf, wieder mehr Zeit in die Verbesserung der ärztlichen Weiterbildung investieren zu können.
SB: Ein weiteres Kernanliegen des vsao ist die 42+4-Stunden-Woche. Diese wollen wir unbedingt entschieden vorantreiben, da wir mit ihr mehrere vsao-Anliegen gleichzeitig angehen können.
Die SIWF-Titelkrise
Die Situation beim Schweizerischen Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) bezüglich der Wartezeiten für Facharzttitel hat sich seit dem Sommer deutlich verschlechtert: Die Wartezeit beträgt etwa zwölf Monate. Der Schaden, der den Betroffenen durch diese massive Verzögerung entsteht, ist gross: Die Karriere ist blockiert, und sie erleiden finanzielle Einbussen durch verpasste Lohnerhöhungen.
Die Ärztekammer der FMH hat am 6. November 2025 nach Anträgen des vsao wichtige Massnahmen beschlossen: Die FMH unterstützt das SIWF dabei, die Bearbeitungsdauer von Titelgesuchen so schnell wie möglich zu senken – auch mit personellen Ressourcen. Die FMH und das SIWF arbeiten gemeinsam an einer Verbesserung der Kommunikation mit den Gesuchstellenden und gegenüber der Öffentlichkeit. Die Ärztekammer empfiehlt zudem dem SIWF, eine befristete Gebührenreduktion von 50 Prozent für betroffene Ärztinnen und Ärzte zu gewähren, wenn die Titelerteilung nach dem 1. Januar 2025 erfolgt ist und mehr als sechs Monate gedauert hat. Diese Empfehlung wurde an der SIWF-Vorstandssitzung vom 20. November 2025 ohne Gegenstimme angenommen. Der Rabatt von 50 Prozent auf die Titelerteilungsgebühr kann damit nun umgesetzt werden. Weitere Informationen zum aktuellen Stand und zum weiteren Vorgehen gibt es in der entsprechenden Mitteilung des SIWF sowie auf der Website des SIWF, die neu auch ein umfassendes FAQ für betroffene Gesuchstellende enthält.