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«Die Diskussionskultur ist eine der Qualitäten, die den vsao ausmachen»

Während vieler Jahre hat sich Angelo Barrile mit Herzblut für den vsao eingesetzt und tritt nun als Präsident zurück. Er hat den Verband mit viel Ausgewogenheit, Besonnenheit und Fokus geleitet. Wir haben mit ihm über seine Zeit beim vsao gesprochen.

Angelo Barrile leitete als vsao-Präsident die Sitzungen des Zentralvorstands. Bild: Severin Nowacki
Angelo Barrile leitete als vsao-Präsident die Sitzungen des Zentralvorstands. Bild: Severin Nowacki

Angelo, du trittst Ende April nach fast fünf Jahren als vsao-Präsident zurück. Wie blickst du auf diese Zeit zurück?

Ich habe das Präsidium in unruhigen Gewässern übernommen: Mein Mandat begann 2020, mitten im ersten Coronajahr, damals hatten wir teilweise noch wöchentliche Videocalls mit allen Sektionen. In meiner Rolle als Präsident habe ich mich stets als Primus inter Pares gesehen: In den Sektionen, im vsao und im Geschäftsausschuss gibt es zahlreiche aktive und engagierte Personen, die ein echtes Interesse daran haben, übergeordnete Gegebenheiten zu ändern. Es war für mich ein Privileg, zuerst in der Sektion, danach als Vizepräsident und dann als Präsident im Verband aktiv zu sein.

Was wird dir positiv in Erinnerung bleiben?

Die Diskussionskultur in den Gremien ist eine der vielen Qualitäten, die den vsao ausmachen. Schon bei meinem ersten Besuch im Geschäftsausschuss war ich beeindruckt, auf welch hohem Niveau die Diskussionen geführt werden. Anfangs habe ich mir gar nicht ganz zugetraut, da mitzumachen, ich wurde aber sehr gut aufgenommen. Später, als Vizepräsident und Präsident, habe ich mich immer bemüht, diese Qualität aufrechtzuerhalten. Ich bin aus tiefstem Herzen ein Demokrat: Nur wenn alle sich äussern können und die ganze Breite an verschiedenen Ansichten fair diskutiert wird, können wir diejenigen Entscheidungen fällen, die für die Gesamtheit wahrscheinlich am besten sind.

Ein weiteres Highlight für mich war das verspätete Jubiläumsjahr, bei dem ich zahlreiche frühere Persönlichkeiten des vsao kennenlernen durfte. Und bei der Tour mit dem vsao-Mobil haben wir aktiv den Kontakt mit der Basis gesucht – und gefunden. Dies hat mir gezeigt, dass der vsao bekannter ist, als man ab und zu denken würde.

Welche Herausforderungen und schwierigen Momente gab es?

Die Mitgliederumfragen alle drei Jahre zeigen deutlich, dass sich die Situation nur sehr langsam verbessert. Zwar gibt es Fortschritte, etwa bei der Einhaltung des Arbeitsgesetzes, jedoch nehmen Burn-outs und Patientengefährdung weiter zu – das ist frustrierend und fühlte sich wie ein Tritt in die Magengrube an. Auch die Coronapandemie war sehr hart: Sie zeigte schonungslos auf, dass alle vorgängigen Mahnungen unsererseits leider berechtigt waren. Die Ärzteschaft hat, zusammen mit dem gesamten Gesundheitspersonal, in dieser Phase einen hohen Preis bezahlt.
Und schliesslich fühlt es sich immer wie eine Niederlage an, wenn Chefärztinnen und -ärzte den jungen Ärztinnen und Ärzten vorwerfen, sie seien faul und möchten nicht arbeiten. Dabei verkennen sie die heutige Realität: Die Arbeitsdichte ist viel höher als früher, und auch die Erwartungen von aussen sind gestiegen. Ärztinnen und Ärzte können es sich heute kaum mehr leisten, mit dem Spital verheiratet zu sein und alles andere –  Kinderbetreuung, Hausarbeit, Sozialleben – hintenanzustellen. Ich selbst habe früher in der Chirurgie auch über 100 Stunden pro Woche gearbeitet – genau darum wünsche ich dies aber heute niemandem mehr. Es braucht in diesen Kaderpositionen eine offenere Haltung dazu, welche Lebensentwürfe mit dem Arztberuf vereinbar sind.

Als Nationalrat konntest du das politische Engagement des vsao auch aus einer anderen Perspektive wahrnehmen. Wie gut ist der vsao hier für die Zukunft aufgestellt?

Die junge Ärzteschaft geniesst politische Sympathien, und der vsao wird zu Recht als konstruktiv und lösungsorientiert wahrgenommen. Die Zusammenarbeit mit anderen ärztlichen Organisationen funktioniert gut, doch die Umsetzung der Rahmenbedingungen für Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte erfolgt auf kantonaler Ebene, wo unsere Präsenz unterschiedlich stark ist. Unsere Sektionen konzentrieren sich richtigerweise auf einen guten Draht zu den Spitälern, um direkt mit ihnen Lösungen zu finden. Die Politik spielt dabei nun eine stärkere Rolle als auch schon, zum Beispiel mit der parlamentarischen Initiative zur 42+4-Stunden-Woche im Kanton Zürich. Zwar fände ich es besser, gemeinsam mit anderen relevanten Stakeholdern wie den Krankenkassen und Spitälern Lösungen zu finden. Die Realität zeigt jedoch, dass der Gang in die Politik ab und zu schlicht nötig ist. Gleichzeitig kann dies auch gefährlich sein: Eine Abstimmungsniederlage ist eine offizielle Niederlage und damit ein Richtungszeichen.

Der vsao ist immer auf der Suche nach engagierten Personen. Es ist aber schwierig, sich trotz der hohen Arbeitslast und unregelmässiger Arbeitszeiten zu engagieren. Was möchtest du interessierten jungen Ärztinnen und Ärzten mitgeben?

Das Engagement im vsao auf jeglicher Stufe erfordert eine gute Organisation. Ein solches ist jedoch nicht nur unglaublich spannend und gewährt einen Einblick hinter die Kulissen, sondern es bietet auch die Möglichkeit, Probleme anzupacken und Lösungen zu erarbeiten. Auch kann man wertvolle Erfahrungen sammeln, die in der zukünftigen Karriere sehr nützlich sein können. Solche Gestaltungsmöglichkeiten sind nicht selbstverständlich, aber enorm bereichernd und interessant. Ein Amt wie das Präsidium des vsao Schweiz ist schon sehr intensiv. Es gibt jedoch zahlreiche Möglichkeiten, sich auch niederschwelliger zu engagieren, beispielsweise in einem Sektionsvorstand oder als Visitatorin oder Visitator.

Die Arbeit im Präsidium scheint dir immer gefallen zu haben. Warum hörst du auf?

Zum einen möchte ich den Stab an eine jüngere Person weitergeben. Auch wenn ich es mir zutraue, die jungen Leute zu vertreten, finde ich es wichtig, dass eine Erneuerung stattfindet und Dinge neu gedacht werden. Der zweite Grund ist persönlicher Art, und ich denke, dass ich als vsao-Präsident und Arzt auch Schwäche zeigen darf, obwohl das leider oft noch ein Tabu ist. Als Folge einer schweren Krebserkrankung vor einigen Jahren habe ich Einschränkungen, zudem leide ich an Long Covid und bin nicht mehr so leistungsfähig wie früher. Ich habe schon vieles abgegeben und mache die Arbeit als vsao-Präsident wirklich gern. Aber leider reicht es nicht für alles, und das 50-Prozent-Pensum in der Praxis möchte ich nicht weiter reduzieren. Für mich war immer klar, dass ich als Präsident so lange weitermache, bis wir eine gute Nachfolge gefunden haben. Mit Severin Baerlocher steht nun ein hervorragender Kandidat zur Verfügung, und ich kann das Amt mit gutem Gewissen weitergeben.

Was wünscht du deinem designierten Nachfolger für die Zukunft?

Ich wünsche ihm, dass ihm die Arbeit Freude bereitet und er ein ebenso tolles Team an seiner Seite hat, wie ich es mit meinen Vizes, dem GA und der Geschäftsstelle hatte. Zudem hoffe ich, dass er seine eigenen Akzente setzen kann und gleichzeitig das volle Potenzial dessen ausschöpft, was andere einbringen, damit der Verband sich weiterentwickelt. Für die fernere Zukunft würde ich mir wünschen, dass das Arbeitsgesetz und die 42+4-Stunden-Woche umgesetzt werden, dass eine gute Weiterbildung und gute Arbeitsbedingungen selbstverständlich sind und dass die Ärztinnen und Ärzte im Beruf bleiben wollen. Bis dahin bleibe ich dem vsao als treues Mitglied erhalten – und gern sogar noch länger.

Zur Person

Angelo Barrile ist Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und arbeitet als Hausarzt bei einer Gemeinschaftspraxis in Zürich. Von 2007 bis 2019 war er Geschäftsleitungsmitglied des vsao Zürich. Seit 2016 ist er Mitglied im Geschäftsausschuss des vsao Schweiz und wurde 2020 zum Präsidenten gewählt. Gleichzeitig sass er von 2015 bis 2023 für die Sozialdemokratische Partei (SP) im Nationalrat.