- Fokus: Wahnsinn
Art brut – Kunst jenseits der Norm
Belächelt, verehrt, diffamiert und gewürdigt: Die Art brut hat unsere Wahrnehmung von Menschen mit psychischen Erkrankungen verändert und Kunstgeschichte geschrieben. Was hat Psychiatrie mit Kunst zu tun? Eine kurze Reflexion des Psychiaters und Künstlers Roman Buxbaum.
09.12.2025
Unser psychiatrisch-psychotherapeutisches Ambulatorium Psychcentral in Zürich leistet sich den Luxus: Der Vortragsraum für Fortbildungen und Gruppentherapien wird als Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst professionell bespielt. Im Januar 2026 zeigen wir in der Ausstellung «Was die Welt zusammenhält» Werke junger Künstlerinnen und Künstler zusammen mit in Zigarrenschachteln gebastelten Welten von Andreas Tschappu, einem Künstler mit einer lebenslangen, kognitiven Beeinträchtigung. Wir glauben, dass psychische Gesundheit, Therapie und Kreativität viel verbindet, dass Heilung ein schöpferischer Prozess ist und dass Kunstwerke psychisch kranker Menschen unseren Blick verändern.
Art brut als Impuls zum Wandel
Meine Generation von Psychiaterinnen und Psychiatern erinnert sich gerne an die Aufbruchstimmung der 1970er- und 1980er-Jahre. Wir wählten die Psychiatrie, um Mauern niederzureissen; die der Anstalten, aber auch die in den Köpfen. Kunst hat bei der «Öffnung der Psychiatrie» eine Schlüsselrolle gespielt und uns eine neue Sicht auf unsere Patientinnen und Patienten eröffnet. Als junger Arzt besuchte ich das «Haus der Künstler» in der psychiatrischen Klinik Gugging bei Wien [1]. Ich war begeistert und entschied, Psychiater zu werden. 1985 begründete ich das Projekt «Künstler aus Königsfelden», ein Atelier für Langzeitpatientinnen und -patienten [2]. Und dann entdeckte ich den Fotografen Miroslav Tichý [3], der mit selbst gebauten Kameras unglaubliche Fotos machte. Ich wurde zum Talentscout in der Psychiatrie.
Werke psychisch schwer kranker Menschen wurden in den 1970er-Jahren zum ersten Mal in Museen gleichberechtigt neben den Werken «normaler» Künstler ausgestellt und haben die gesellschaftliche Stellung der «Verrückten» und «Wahnsinnigen» nachhaltig verändert [4]. Seither entstehen viele Kunstprojekte in der Psychiatrie (z. B. das Living Museum), und kunsttherapeutische Ateliers für psychisch kranke Menschen sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Ich lade Sie deshalb zu einem kurzen Rückblick auf eine nicht konfliktfreie Liebesbeziehung ein: Kunst und Psychiatrie.
Ein Tor zur Freiheit?
«Es gibt nämlich noch die Uranfänge von Kunst, wie man sie eher in ethnografischen Sammlungen findet oder daheim in seiner Kinderstube. Lache nicht, Leser! Die Kinder können es auch, und es steht Weisheit darin, dass sie es auch können! (...) Parallele Erscheinungen sind die Arbeiten der Geisteskranken.» Paul Klee, Kunstbrief in die Schweiz, 1912
Vor rund 100 Jahren fing es lustvoll an. Paris im Herbst 1922. Max Ernst zeigt André Breton und Paul Éluard das soeben erschienene Buch des Heidelberger Psychiaters Hans Prinzhorn [5]. Die vielen Abbildungen von Zeichnungen und Skulpturen aus der Psychiatrie waren für die Surrealisten eine Entdeckung, ein Befreiungsschlag. Gleichzeitig mit Sigmund Freud fanden sie im Unbewussten, im Traum, in der Psychose die Wiege der Kunst. Es seien die Verrückten, die den Weg in eine bessere Welt weisen! In der Zeitschrift «Révolution Surréaliste» rief André Breton 1925 in einem «Brief an die Chefärzte der Irrenanstalten» zur Befreiung der «Gefangenen der Sensibilität» auf, «denen gegenüber Ihr – erkennt es doch! – lediglich die Macht voraushabt». Die Kunst der Verrückten – L’Art des fous – wie Breton sie nannte, war das letzte grosse Tor zur Freiheit – weg von den erstarrten Werten der Akademien. Wer war hier verrückt und wer gefährlich? Die Eingesperrten oder ihre Wärter? Der grosse Kulturbruch in Europa vor 100 Jahren sollte später einen Namen bekommen: die Moderne.
Natur oder Kultur?
Psychiaterinnen und Psychiater haben seither den Ursprung des Künstlerischen und der Kreativität kontrovers diskutiert. Kommt Kunst aus der Krankheit oder aus dem gesunden Rest, der Krankheit zum Trotz? Kommt Kunst von Können, von Kultur, ist sie also angelernt wie ein Handwerk, oder kommt die Kreativität aus dem natürlichen, ungezogenen, kindlichen Spiel, dem Garten der triebhaften und verrückten Lüste, dessen Eingang bei den meisten Erwachsenen durch Schule und Anpassung verschüttet wird? Ist Kunst ein Kind der Natur oder der Kultur?
Die Psychiatrisierung der Kunst
Die Psychiaterinnen und Psychiater der Zwischenkriegszeit – selbst Hans Prinzhorn – suchten in den zeichnerischen Erzeugnissen psychiatrischer Patientinnen und Patienten nach Symptomen ihrer Erkrankung. Auch in den Werken der Avantgarde erkannten sie ähnliche «Symptome» und entwickelten eine Psychopathologie der Kunst. Um 1912 verortet Sigmund Freud in mehreren anonymen Aufsätzen den psychischen Ursprung der Kunst in der Nähe des neurotischen Symptoms. Er formuliert die These der Sublimierung. Selbst C. G. Jung ordnete 1932 Picasso den Schizophrenen zu, gestützt auf seine Beobachtungen an Zeichnungen schizophrener Personen [6]. Die Ausstellung «Entartete Kunst» (Haus der Kunst, München, 1937) ist wohl die brutalste Konsequenz der Psychiatrisierung der Kunst. Die Ausstellung diente dem Ziel, zwei dem nationalsozialistischen Regime unliebsame Gruppen zu diffamieren: die künstlerische Moderne und die aus rassenhygienischen Gründen als genetischen Ballast empfundenen chronischen Psychiatrieinsassinnen und -insassen. Die Pioniere der Moderne konnten grösstenteils flüchten; die psychisch Erkrankten nicht. In den folgenden Jahren wurde im nationalsozialistischen Deutschland rund eine Viertelmillion chronischer Psychiatrieinsassinnen und -insassen ermordet.
Die Würdigung von Adolf Wölfli als mutiger Akt
Es gab aber auch Psychiater wie Hans Prinzhorn oder Walter Morgenthaler, die sich dem Zeitgeist verweigerten. 1921 erschien die Monografie des Berner Psychiaters Walter Morgenthaler [7] über das zeichnerische Riesenwerk des Patienten Adolf Wölfli. Dies war das erste Buch über einen sogenannten «Dementen» [1], der sein ganzes Leben in einer Klinik verbrachte und ein berühmter Künstler wurde. Unglaublich mutig und visionär ist Morgenthalers Entschluss, Wölfli als Künstler zu bezeichnen. Er nennt sein Buch «Ein Geisteskranker als Künstler. Adolf Wölfli». Morgenthaler wird für diese Anerkennung eines chronisch schizophrenen Psychiatrieinsassen als Künstler viel Kritik und Kollegenhäme einstecken müssen. Sein Mut und sein eigenständiges Denken waren mir immer ein Vorbild.
Was ist Art brut?
Die kontextuelle «Rahmung» von Kunstwerken liegt seit der Renaissance weitgehend in der Hand der Künstlerinnen und Künstler. Sie bestimmen, welche Werke ausgestellt werden, wie sie gerahmt werden und wie der theoretische Bezug zwischen Werk und Kunstschaffenden zu befragen ist. Die Erzeugnisse psychiatrischer Patientinnen und Patienten erscheinen hingegen wie verwaiste Kinder. Kunstschaffende der Art brut sind per definitionem nicht in der Lage, ihr Werk zu verwalten (ebenso wenig wie ihr Leben oder ihren Besitz). Kehrt man diesen Satz um, hat man die einfachste und schlankeste Definition von Art brut. Sie ist definiert durch die Unterlassung der Autorinnen und Autoren, mit ihrem Werk mündig umzugehen. Art brut ist weder ein kunsthistorischer noch ein medizinischer Begriff. Art brut ist ein juristischer Begriff, so wie Zurechnungsfähigkeit oder Mündigkeit.
Kunst braucht Freiraum, um sich zu entwickeln, Therapie ebenso. Über die therapeutischen Aspekte von Kunst in der Therapie kann ich mich hier jedoch aus Platzgründen nicht weiter äussern. Ich lade Sie jedoch herzlich zu unseren psychiatrischen Fortbildungen und den künstlerischen Veranstaltungen ein, die – nicht nur räumlich – einen gemeinsamen Ort haben.
Literatur
- Leo Navratil: Die Künstler aus Gugging, Verlag Medusa, Wien [u. a.], 1983.
- Roman Buxbaum (Hrsg.): Künstler aus Königsfelden, Verlag Pablo Stähli, Zürich, 1986.
- Roman Buxbaum: Miroslav Tichý, Verlag Walther König, Köln, 2010.
- Roman Buxbaum: Von einer Welt zur Andern, Kunst von Aussenseitern im Dialog. Hrsg. von Roman Buxbaum, DuMont Verlag, Köln, 1990.
- Hans Prinzhorn: Bildnerei der Geisteskranken. Springer Verlag, Heidelberg, 1922.
- «NZZ» vom 13. November 1932, Besprechung von Picassos Ausstellung im Kunsthaus Zürich.
- Walter Morgenthaler: Ein Geisteskranker als Künstler, 1921, Verlag Ernst Bircher, Bern und Leipzig.