• Medizin trifft Kunst

Therapeutische Sprachgestaltung ist mehr als Logopädie

Von allen künstlerischen Therapien ist die therapeutische Sprachgestaltung die am wenigsten bekannte. Wie funktioniert sie? Und wann wird sie angewendet?

Die Atmung: das kraftvolle Werkzeug der therapeutischen Sprachgestaltung. Bild: © ICAAT, Fotograf: François Croissant
Die Atmung: das kraftvolle Werkzeug der therapeutischen Sprachgestaltung. Bild: © ICAAT, Fotograf: François Croissant

Während sich bei der Maltherapie, der Gestaltungstherapie oder der Musiktherapie auf Anhieb konkrete Bilder einstellen, ist die therapeutische Sprachgestaltung weniger fassbar. Auch der Begriff ist sperrig. Ist es mehr als eine Therapie von Sprache und Stimme? Und was ist der Unterschied zur Logopädie?

Was ist und was kann die therapeutische Sprachgestaltung?

Die therapeutische Sprachgestaltung und die Logopädie befassen sich beide mit der Behandlung von Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Die therapeutische Sprachgestaltung hat darüber hinaus aber viele weitere Anwendungsfelder. Sie wirkt bis in physiologische Prozesse hinein und hilft bei organischen Erkrankungen.

Sie ist eine sprechgetragene Atemtherapie. Zum Einsatz kommen Laute, Silben, Worte oder Texte, die häufig mit Körpersprache, Gestik und Bewegung verbunden werden. Fast alle Übungen dieser Therapiemethode werden gesprochen. Die therapeutische Sprachgestaltung zählt somit zu den aktiven Therapieformen im zeitlich-akustischen Raum. Im Fokus steht der Prozess, nicht das Produkt.

Auch wenn sie in der anthroposophischen Medizin beheimatet ist, so ist die therapeutische Sprachgestaltung überall integrierbar, wo die Ausdrucksfähigkeit, die Autonomie und die Selbstwirksamkeit von Menschen gestärkt werden sollen, sei es präventiv, kurativ, rehabilitativ oder palliativ.

Worauf beruht die Wirkung?

Unzählige physiologische Prozesse entziehen sich der bewussten Kontrolle, wie die Verdauung, die Regulierung von Herzfrequenz und Blutdruck, die Temperaturregulation, die Hormonausschüttung usw. Unter allen diesen autonomen Prozessen hat die Atmung eine Sonderstellung: Sie lässt sich bewusst verändern. Gleichzeitig steht sie mit dem ganzen Organismus in Verbindung, wodurch die bewusste Manipulation des Atemrhythmus Zugriff auf andere autonome Prozesse ermöglicht.

Die Atmung ist zudem das zentrale Bindeglied zwischen Körper und Psyche. Stress, Angst oder Entspannung verändern die Atmung unmittelbar, wie auch die Atmung auf direktem Wege Emotionen modifizieren kann.

Atmen dient nicht nur dem lebenswichtigen Gasaustausch. Der Atem trägt auch Gesang und Sprache. Dies macht ihn zu einem mächtigen Werkzeug der therapeutischen Sprachgestaltung. Denn jedem ausgesprochenen Laut liegt ein spezifischer Atemvorgang zugrunde, jede Stimmgebung fordert Atemluft, die in Schwingung versetzt werden muss. Sprechen verändert den Atemstrom.

Wie die emotionale Befindlichkeit am Sprechen und der Stimme hörbar ist, kann man therapeutisch über Stimme und Sprechen nach innen wirken. Der enge emotionale Zusammenhang ist auch daran zu erkennen, wie Therapiedurchbrüche erlebt werden: häufig mit Tränen der Freude. Die Klientinnen und Klienten leisten mitunter harte Arbeit, mit innerer Beteiligung an einem persönlichen Entwicklungs- und Wandlungsprozess.

Ausserdem bewirken Veränderungen des Atemvorganges konkrete physiologische Veränderungen. Der starke Einfluss des rhythmischen Sprechens auf den Blutdruck konnte z. B. in einer Studie am Inselspital Bern gezeigt werden [1].

Die Vorzüge der Bauchatmung

Viele Menschen atmen flach, vor allem bei Stress, Angst oder Krankheit. Diese sogenannte Brustatmung mag evolutionsgeschichtlich den Zweck gehabt haben, den Körper auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Denn die geringere Sauerstoffzufuhr bei der Brustatmung erhöht die Muskelanspannung und senkt die Schmerzempfindlichkeit.
Eine chronisch flache Atmung kann jedoch zu Schulter- und Nackenschmerzen führen. Weitere mögliche Folgen aufgrund des absinkenden Kohlensäuregehaltes des Blutes sind eine erhöhte Infektanfälligkeit, Sensibilitätsstörungen in den Händen, Krämpfe und Erschöpfung sowie Verdauungsprobleme. Dies, weil der zentrale Atemmuskel – das Zwerchfell – seine Beweglichkeit verliert, was z. B. ein Blähgefühl unmittelbar nach dem Essen oder anhaltendes Aufstossen verursachen kann.
So ist es eine häufige Grundaufgabe der therapeutischen Sprachgestaltung, die Zwerchfell- oder Bauchatmung einzuüben. Sie aktiviert das parasympathische Nervensystem, reguliert den Blutdruck und die Emotionen. Die Entspannung wirkt lindernd auf Schmerzen, und auch der Verdauung kommt die Bauchatmung zugute: Jeder Atemzug massiert die inneren Organe. Die bessere Sauerstoffversorgung des Gehirns schlägt sich auch kognitiv nieder: Man ist geistig klarer und vermag sich besser zu konzentrieren.

Indikationen für die therapeutische Sprachgestaltung

  • Sprech- und Stimmstörungen wie Heiserkeit, Lispeln, Stottern
  • Erkrankungen der Atemwege wie Asthma bronchiale, COPD, Lungenentzündung, Sinusitis
  • Krebserkrankungen
  • Stoffwechselerkrankungen wie Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Allergien, Diabetes mellitus
  • Kardiovaskuläre Erkrankungen wie arterielle Hypertonie, Herzrhythmusstörungen
  • Neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Morbus Parkinson
  • Psychiatrische und psychosomatische Erkrankungen wie Depressionen, Angsterkrankungen, Burn-out

Praktische Hinweise

Die Klientinnen und Klienten kommen aus eigenem Antrieb oder auf ärztliche Verordnung in die therapeutische Sprachgestaltung. Die Therapeutin oder der Therapeut führt im Erstgespräch eine Befunderhebung durch und vereinbart mit der Klientin oder dem Klienten einen Therapieplan sowie die Therapieziele.

Einzelne Sprech-, Stimm- oder Atemübungen sollten auch ausserhalb der Therapiestunde täglich oder mehrmals wöchentlich durchgeführt werden. Der dafür notwendige Zeitaufwand bemisst sich an der Symptomstärke und der Compliance.

Ärztlich verordnete künstlerische Therapien umfassen in der Regel neun bis zwölf Sitzungen und werden über eine entsprechende Zusatzversicherung vergütet (vorgängige Kostengutsprache empfohlen).

Literatur

  1. Bettermann H, von Bonin D, Frühwirth M, Cysarz D, Moser M. Effects of speech therapy with poetry on heart rate rhythmicity and cardiorespiratory coordination. Int J Cardiol. 2002 Jul;84(1):77–88. doi: 10.1016/s0167-5273(02)00137-7. PMID: 12104068.