• Aufgefallen

Ein überzeugendes Plädoyer für die Hausarztmedizin

Es hätte eine weitere Klageschrift über den aktuellen Zustand des Schweizer Gesundheitswesens werden können. Stattdessen verficht Giovanni Fantacci optimistisch nach vorne blickend und dankbar zurückblickend die moderne Hausarztmedizin.

Giovanni Fantaccis Buch «Hausarzt 4.0» zeigt eindrücklich und einfühlsam auf, was den Hausarztalltag ausmacht. Bild: Patrick Cernoch
Giovanni Fantaccis Buch «Hausarzt 4.0» zeigt eindrücklich und einfühlsam auf, was den Hausarztalltag ausmacht. Bild: Patrick Cernoch

Für Giovanni Fantacci steht die heutige Hausarztmedizin auf der vierten Stufe einer längeren Entwicklung. Anhand konkreter Fallbeispiele aus seiner Praxis erläutert und kontextualisiert er in seinem in neun Essays aufgeteilten Buch diese Entwicklung und geht dabei den grundlegenden Fragen des Lebens nach. Nach einer Einführung darüber, was Krankheit und Gesundheit sind und was die moderne Medizin zu leisten vermag, führt er uns strukturiert hin zu Überlegungen über die Arbeit als Hausarzt, über die Bedeutung der Arzt-Patienten-Beziehung sowie zu Erfahrungen und Gedanken zu Tod und Sterben, Glaube und Religion. Ein praktischer Essay darüber, wie Lebensstiländerungen gelingen können, leitet über zum wahrscheinlich wichtigsten Essay des Buches: zu jenem über den Umgang mit und die Behandlung von Menschen mit Beeinträchtigungen.

Was macht ein sinnhaftes Leben aus?

Berührend erzählt der Autor von Begegnungen mit körperlich und/oder geistig Beeinträchtigten, die aufgrund geografischer Gegebenheiten seinen Hausarztalltag prägen. Dieser Essay ist darum als so relevant anzusehen, weil er imminenten ökonomischen Gedankenspielen vehement entgegentritt: Die Schwächsten, vor rund 80 Jahren als «lebensunwürdig» Entwertete, dürfen nicht aus rein wirtschaftlichen Gründen mit Rationierungen und Kürzungen behelligt werden. Giovanni Fantacci leitet schlüssig her, warum die Frage nach einem sinnhaften, würdigen, gar glücklichen Leben nicht von der körperlichen oder geistigen Verfassung abhängig gemacht werden kann und darf. Das Buch schliesst mit Überlegungen, teils theoretischer Natur, was denn nun Glück und der Sinn des Lebens sind, und mit einer Geschichte, die uns dazu ermuntern soll, unsere Sinne vermehrt auf das Positive im Leben zu richten.

Eindrückliche Erfahrungen und eine Portion Idealismus

«Hausarzt 4.0» lebt von den persönlichen, über Jahrzehnte gesammelten Erfahrungen, Begegnungen und Erlebnissen des Autors, die souverän in einen grösseren Kontext gebracht werden. Diese grösste Stärke ist zeitgleich die einzige Schwäche des Buches: Es wird uns eine etwas gar heil scheinende Welt dargeboten, in der sich vor allem Berufseinsteigerinnen und -einsteiger kaum wiedererkennen werden und die eher dem wünschenswerten Idealfall entspricht. Wenngleich Giovanni Fantacci immer wieder differenziert den Istzustand reflektiert, so dominieren über einzelne Teile des Buches die nostalgischen, teils idealistischen Gefühle, die an manchen Stellen eine nachdrückliche, zielorientierte Kritik am aktuellen System vermissen lassen. Aber vielleicht ist genau das eine weitere fundamentale Stärke dieses Buches. Giovanni Fantacci ist ein lesenswertes, biografisch geprägtes Buch gelungen, das uns an seinen jahrzehntelangen Erfahrungen teilhaben lässt und diese in einen für uns alle relevanten Kontext zu stellen vermag. Er hebt die existenzielle Bedeutung der Hausarztmedizin hervor, ohne dogmatisch zu wirken, und leistet einen wichtigen Beitrag dazu, das Verständnis für die Vorzüge und Wichtigkeit der zeitgenössischen Hausarztmedizin 4.0 zu fördern.

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