• Aufgefallen

«Nichts ist so wohltuend wie das wasserhelle Dahinfliessen schmerzfreier Zeit»

Eine Migränepatientin und ein Kopfschmerzspezialist schreiben zusammen ein Buch. Dabei sind ein überwältigender Erfahrungsbericht und zwei nüchterne Interviews entstanden: ein buchstäbliches Feuerwerk, das nachhallt.

Ein eindrücklicher Erfahrungsbericht eingebettet in einen medizinisch-wissenschaftlichen Rahmen: «Leben mit Migräne» ist ein vielschichtiges Buch mit Relevanz. Bild: Patrick Cernoch
Ein eindrücklicher Erfahrungsbericht eingebettet in einen medizinisch-wissenschaftlichen Rahmen: «Leben mit Migräne» ist ein vielschichtiges Buch mit Relevanz. Bild: Patrick Cernoch

Die Beschreibung eines Schwarzweissfotos aus den 1950er-Jahren: das Porträt eines knapp zweijährigen Mädchens mit seiner Puppe. Das Buch beginnt unspektakulär – wäre da nicht dieses verstörende Detail auf dem Foto. Dieser unscheinbare Hinweis, dass hier etwas nicht stimmt: drei in den Hinterkopf der Puppe gesteckte Sicherheitsnadeln. Mit diesem einprägsamen Bild ihrer Selbst beginnt Praxedis Kaspar-Schmid die Aufzeichnung ihres fast sechs Jahrzehnte dauernden Leidensweges. Als Tochter einer Migränepatientin wird sie in der Pubertät selbst zur Kopfschmerzpatientin, buchstäblich erbt sie die Migräne ihrer Mutter und damit die Blechschachtel mit Schiebedeckel, in der die Schmerzmittel gelagert werden.

Kaspar-Schmid, berufserfahrene Journalistin und Autorin, versteht es vorzüglich, in ihrem rund fünfzigseitigen Erfahrungsbericht mit Worten plastische Bilder zu malen, bedrückend, mitunter schmerzhaft. Im hämmernden Staccato des Kopfschmerzes reiht sie in den Beschreibungen ihrer Migräneattacken Wörter zu pulsierenden Sätzen auf, deren Rhythmen zum Sinnbild des Empfundenen werden und sich mit wallendem Crescendo zu sprachlichen Höhepunkten auftürmen, die manchmal schwer zu ertragen sind. Plattitüdenlos resümiert die Autorin ihr Leben mit Schicksalsschlägen und Erfolgen, mit dem Schmerz und mit der Angst davor. Sie zeichnet das Leben einer existenziell Geplagten, die trotzdem vieles gemacht hat: Kinder grossgezogen, ihren Lebensunterhalt verdient, Reisen unternommen, Partnerschaft gelebt.

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Tiefpunkt und Befreiung

Durch die Attackenhäufigkeit in eine Schmerzmittelabhängigkeit geraten, erreicht Praxedis Kaspar-Schmid kurz vor ihrer Pensionierung einen Tiefpunkt. Ein stationärer Medikamentenentzug und eine spezialisierte Rehabilitation werden nötig, um mit dem Schmerz einen konstruktiveren Umgang als die Medikamenteneinnahme zu erlernen. Über die Jahre häufen sich die Migräneattacken aber wieder, der Medikamentenkonsum steigt. Doch wie die Migräne «wie ein dunkler Strom […] durch mein Leben fliesst», so fliesst auch die Zeit dahin und gibt dem medizinischen Fortschritt Raum. Mit 70 Jahren erfährt Praxedis Kaspar-Schmid von einem neu zugelassenen Antikörper, der ihr Leben auf den Kopf stellen wird.

Als Spritze durch ihre Hausärztin verabreicht, entfaltet die Arznei ihre Wirkung: «Am Tag darauf hat mich die Migräne ohne Abschied verlassen.» Genauso eindringlich wie über ihren Schmerz schreibt Kaspar-Schmid über dessen Abwesenheit. Statt hemmungsloser Euphorie über die Schmerzfreiheit tun sich existenzielle Fragen auf: «Wer bin ich also ohne meine Migräne? Was wäre aus mir geworden ohne Migräne?» Eine gewisse Ratlosigkeit wird spürbar – und mit der Zuversicht der Überlebenden ins Positive verkehrt: «Nichts ist so wohltuend wie das wasserhelle Dahinfliessen schmerzfreier Zeit.» So hätte das Buch enden können.

Distanzierte Einordnung

Im zweiten Teil des Buches finden sich zwei Interviews. Patientin und Neurologe stellen sich gegenseitig Fragen. Noch berauscht vom Erfahrungsbericht wirken diese beiden Texte nüchtern, beinahe redundant. Jedoch erlauben sie dem Gelesenen, sich zu setzen, und ergänzen den ersten Teil um einen wichtigen Aspekt: den sachlichen. Im Interview erzählt Praxedis Kaspar-Schmid die gleiche Geschichte distanzierter. Und der Neurologe vermag das Krankheitsbild «Migräne» insofern in einen verständlichen Kontext zu bringen, als dass er mit seinen Antworten einen medizinisch-wissenschaftlichen Rahmen schafft. Die zwischen den Teilen eingefügten «Migräneslogans» und das «Migräne-ABC» am Ende des Buches verblassen hingegen.

Praxedis Kaspar-Schmid und Andreas R. Gantenbein ist ein vielschichtiges Buch gelungen, das für Betroffene, Angehörige und Behandelnde gleichermassen relevant ist. Kaspar-Schmids poetischer Rausch der Wörter vermittelt die Sicht der Patientin so eindrücklich, dass man ihr den etwas gar hoch gegriffenen Vergleich mit einer biblischen Figur und einige Wiederholungen gerne nachsieht. Andreas R. Gantenbein hält sich eher im Hintergrund, besticht dabei mit fachlichem und vor allem menschlichem Verständnis, auch wenn er – eher untypisch für Kopfschmerzspezialisten, wie er sagt – selbst nicht an Migräne leidet.