• Fokus: Humor

Bittere Pillen mit Zuckerguss

Die spitze Feder einer Pressezeichnung gilt als Paradedisziplin der Meinungsfreiheit. Eine Freiheit, die gleichzeitig beliebt und zunehmend bedroht ist.

Pressezeichnungen spielen mit der Neuinterpretation von Bekanntem. Die besten Pressezeichnungen der Schweiz werden jeweils im Rahmen der Ausstellung «Gezeichnet» ermittelt. Bild: Verein «Gezeichnet»
Pressezeichnungen spielen mit der Neuinterpretation von Bekanntem. Die besten Pressezeichnungen der Schweiz werden jeweils im Rahmen der Ausstellung «Gezeichnet» ermittelt. Bild: Verein «Gezeichnet»

Kinderkram. Das ist Zeichnen in den Augen der meisten Erwachsenen. Etwas, was man früher an langweiligen, verregneten Nachmittagen gemacht hat. Und irgendwann auf dem Weg durch die Pubertät gegen andere Hobbys getauscht hat: irgendeine Sportart, ein Instrument oder einen Trick, um die elterlich verfügte Tiktok-Zeit zu umgehen. Ausser, dass Tiktok bei vielen noch ein Buch und der Trick die Taschenlampe unter der Bettdecke war.
Doch es gab immer auch ein paar wenige, die haben einfach weiter gezeichnet und das irgendwann zu ihrem Beruf gemacht. Ich bin einer davon, ein Pressezeichner. Dafür gibt es keine Ausbildung, die Lebenswege dahin könnten unterschiedlicher nicht sein. Ein paar Dutzend Kolleginnen und Kollegen veröffentlichen regelmässig ihre Cartoons und Karikaturen in Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Was sie neben dem Faible für Papier und Stift sonst noch eint, ist das produktive Leiden an den Zuständen in Politik und Gesellschaft. Die Gegenwart bietet gerade reichlich davon.

Als Cartoonist illustriert Karma alias Marco Ratschiller verschiedenste Themen – von Politik … Cartoon: Karma alias Marco Ratschiller, «Freiburger Nachrichten»

… über Sport … Cartoon: Karma alias Marco Ratschiller, «Freiburger Nachrichten»

… bis hin zu gesellschaftlichen Themen. Das Innenleben eines Wutbürgers gewann 2016 den Publikumspreis der Ausstellung «Gezeichnet». Cartoon: Karma alias Marco Ratschiller, «Nebelspalter»

Der Fünfsekundensnack

Die Pressezeichnung ist die kürzeste journalistische Gattung überhaupt. Sie will ein kleines Bonbon mit Zuckerguss sein, in dessen Innern durchaus eine bittere Pille stecken kann. Sie ist ein Kommentar, der in wenigen Sekunden gelesen und verstanden werden will. Zu lesen gibt es allerdings keine – oder nur wenige – Worte, sondern Gesichter und Gegenstände, Sprachbilder und Redensarten, Mimik und Gestik. Die Kunst der Karikatur besteht darin, scheinbar Vertrautem durch Verfremdung, Übertreibung, Rekombination einen überraschenden, neuen Sinn zu geben. Etwa, indem man das berühmte Cover des Erfolgsromans «Er ist wieder da» nimmt, aber den berüchtigten Seitenscheitel durch eine gelbe Haartolle ersetzt.

Das veränderte Cover des Erfolgsromans «Er ist wieder da» landete bei der Ausstellung «Gezeichnet 2024» auf dem dritten Platz der Publikumsbewertung. Cartoon: Regina Vetter, «Petarde»

Am besten gefiel dem Publikum das Ausmalbild mit dem neuen US-Präsidenten. Cartoon: Cic alias Stephan Lütolf, «Der Bund»

Auf den zweiten Platz wählte das Publikum die erschöpfte Friedenstaube. Cartoon: Christoph Biedermann, «Reformiert»

Satire, so eine gängige Definition, verzerrt die Wirklichkeit zur Kenntlichkeit. Wenn sich die Wirklichkeit so rasch und einschneidend verändert wie jetzt gerade, kann das zu einer echten Herausforderung werden. Was vor Kurzem noch absurde Überzeichnung gewesen wäre, gilt heute schon als normal. Es kann vorkommen, dass eine Karikatur zwischen Fertigstellung und Publikation von der Realität überholt wird.
Dennoch liebe ich es, das Weltgeschehen zu karikieren. Innerhalb weniger Stunden auf ein Ereignis eine Reaktion zu finden, die etwas auf den Punkt bringt, nicht nur im Sinne einer gelungenen Pointe, sondern auch einer treffenden Analyse, das empfinde ich als positiven Stress, der fast ein bisschen süchtig machen kann.

Zunehmend unter Druck

Für Süchtige wie mich haben sich die Bedingung in den letzten Jahren allerdings deutlich verschlechtert. Es ist fast schon paradox: Während in Krisenzeiten die Bedeutung von Satire grundsätzlich zunimmt, ist die Pressekarikatur selbst in Bedrängnis geraten. Zum einen, weil ganz allgemein die gegenseitige Toleranz unterschiedlicher Standpunkte enorm erodiert ist. Zum anderen aber vor allem, weil eine der zahlreichen Krisen unserer Zeit die Krise der Medienwelt selbst ist.
Das hat für Schweizer Karikaturistinnen und Cartoonisten spürbare Auswirkungen. Die Presselandschaft ist heute unter wenigen grossen Verlagshäusern aufgeteilt, die trotz aller Fusionen und Synergieeffekte Jahr für Jahr weiter an der Sparschraube drehen.
Trotz medialen Spardrucks, der in der Romandie nicht weniger lastet als in der Deutschschweiz, ist bemerkenswert, dass der Stellenwert der Karikatur in der französischsprachigen Schweiz immer noch sehr hoch ist. Die Zahl der veröffentlichten Cartoons ist proportional ungleich grösser als in der Deutschschweiz. Die grössere Popularität jenseits des Röstigrabens erlaubt es den Zeichnerinnen und Zeichnern auch, ihre Pointen durchaus etwas frecher, aggressiver und derber zu gestalten als im Deutschschweizer Blätterwald. Auch wenn hüben wie drüben alle ihre eigene künstlerische Handschrift entwickeln, macht sich in der Romandie stilistisch die grosse Tradition von frankofonen Cartoon- und Comiczeichnern wie Uderzo («Asterix») oder Franquin (Gaston) deutlich bemerkbar. Kein Wunder also, schaffen es die welschen «Dessins de presse» auch über die (Sprach-)Grenze. So zeichnet der Genfer Cartoonist Patrick Chappatte nicht nur für «Le Temps», sondern auch für die «NZZ am Sonntag», den deutschen «Spiegel» oder den «Boston Globe».

In der Romandie haben Karikaturen einen hohen Stellenwert, was am Swiss Cartoon Award 2023 besonders deutlich wurde: Die drei ersten Plätze besetzten Zeichnungen aus der Romandie; so der Cartoon «L’aide humanitaire arrive gentiment à Gaza» (1. Rang) … Cartoon: Alex alias Alexandre Ballaman, «La Liberté»

… die Zeichnung zum sexuellen Missbrauch in der Kirche (2. Rang) … Cartoon: Caroline Rutz, «Le Matin Dimanche»

… oder der Cartoon zum Untergang der Credit Suisse (3. Rang). Cartoon: Bénédicte Sambo, «24 heures»

Publikumsmagnet «Gezeichnet»

Mein Interesse an der Karikatur endet nicht beim eigenen Plätzchen in der Medienwelt. Zusammen mit befreundeten Cartoonisten habe ich 2008 die Ausstellung «Gezeichnet» ins Leben gerufen, die sich seither als «begehbarer Jahresrückblick» der Schweizer Pressezeichnenden im Berner Museum für Kommunikation etabliert hat. Die rund 200 Arbeiten von 50 Künstlern und (leider viel zu wenig) Künstlerinnen aus allen Landesteilen, die hier jeweils zu sehen sind, sorgen mit gegen 18 000 Besucherinnen und Besuchern innerhalb weniger Wochen für eine der bestfrequentierten Ausstellungen auf der Berner Museumsmeile.

Als beste Pressezeichnung des Jahres 2024 wählte die Fachjury einen Beitrag zum Nahostkonflikt. Cartoon: Oger alias Andreas Ackermann, «Petarde»

Den zweiten Platz teilen sich ein Cartoon zum Atomstrom … Cartoon: Vincent di Silvestro, «Vigousse»

…  sowie eine Zeichnung zur fortschreitenden Digitalisierung. Cartoon: Ruedi Widmer, «Der Landbote»

Auch in der Wertung der Jury fehlt die Präsidentenwahl in den USA nicht, hier auf Rang 3. Cartoon: Patrick Chappatte, NZZ am Sonntag

Welche Cartoons beim Publikum jeweils am besten ankommen, wird seit vielen Jahren im Museum mit einer gutschweizerischen Urnenabstimmung ermittelt. Der Publikumspreis, der jeweils am Ende der Ausstellung verliehen wird, bildet zusammen mit einem Fachjurypreis, der an der Vernissage übergeben wird, einen spannenden Indikator, was die Schweiz – und ihre Lachmuskeln – jeweils am meisten bewegt hat. Wenig überraschend ist, dass Donald Trump, der aktuell die Schlagzeilen dominiert, heuer beim Publikum die Wahl gewonnen hat. Die Folgen dieser Wahl sind aber, abgesehen von einem bescheidenen Preisgeld für den Cartoonisten Cic – und ganz im Gegensatz zur vorangegangenen Wahl am 5. November 2024 – glücklicherweise bloss: Kinderkram.