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smarter medicine: Top-5-Liste Planetary Health
Die Reduktion von unnötiger Diagnostik und Übertherapie bietet eine Möglichkeit, sowohl Patientinnen und Patienten als auch dem Planeten einen Dienst zu erweisen.
03.09.2025
«Der Klimawandel stellt die grösste gesundheitliche Bedrohung unseres Jahrhunderts dar», schreibt die FMH in ihrer Strategie zu Planetary Health [1]. Der Klimawandel beeinflusst die Gesundheit über direkte und indirekte Effekte. Direkt verursacht er eine Zunahme von extremen Wetterereignissen wie Hitzewellen, Starkregen oder Stürmen. Indirekt schadet der Klimawandel Ökosystemen, der Wasser- und Luftqualität, was zu einer Zunahme von Krankheiten und Mortalität führt [2]. In der Schweiz bedeutet dies beispielsweise eine Zunahme der kardiovaskulären Mortalität während Hitzewellen und einen Anstieg von respiratorischen Krankheiten wie Asthma, v. a. bei Kindern, durch eine schlechtere Luftqualität [3, 4]. Indirekt hat der Klimawandel bereits zu einer Ausweitung des Risikogebiets der Frühsommer-Meningoenzephalitis auf die ganze Schweiz mit Ausnahme des Tessins sowie zu einer Ansiedelung der asiatischen Tigermücke (Aedes albopictus – Überträger von Dengue-, Chikungunya- und Zika-Virus) geführt [4].
Gesundheitssystem als namhafter CO₂-Verursacher
Der Klimawandel ist jedoch nicht nur ein Gesundheitsrisiko, das die Arbeit aller Mitarbeitenden des Gesundheitssystems in den kommenden Jahren prägen wird. Das Gesundheitssystem ist zudem für rund 6 Prozent der CO2-Emissionen in der Schweiz verantwortlich; global sind es 5 Prozent (zum Vergleich: die CO2-Emissionen durch Flugreisen werden global auf 2,5 Prozent geschätzt) [1, 5].
Ärztinnen und Ärzte nehmen eine einzigartige Position ein: Sie können nicht nur über die Gesundheitsrisiken des Klimawandels informieren und Patientinnen und Patienten über Anpassungen aufklären, sondern auch direkt auf den CO2-Ausstoss des Gesundheitssystems Einfluss nehmen.
Im Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (vsao) ist das Thema Planetary Health schon seit mehreren Jahren präsent; die zum Thema bestehende Arbeitsgruppe trifft sich regelmässig und erarbeitet und diskutiert Massnahmen, wie die Ärzteschaft und der vsao einen Beitrag für einen gesünderen Planeten und gesündere Patientinnen und Patienten leisten können. In diesem Kontext entstand die Idee, eine Top-5-Liste zum Thema Planetary Health zu erstellen. Dies nach dem Vorbild der bereits bestehenden, fachspezifischen Top-5-Listen, die der Verein smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland in Zusammenarbeit mit zahlreichen Fachgesellschaften in den letzten Jahren publiziert hat [6].
Die Choosing-Wisely-Kampagne beschäftigt sich seit 2012 mit Über- und Fehlbehandlungen in der Medizin; sowohl national wie auch international [8]. Sie hat eine wichtige Diskussion über den zurückhaltenden Einsatz medizinischer Leistungen anstossen können, die im heutigen gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Umfeld des Gesundheitswesens weiterhin hochrelevant ist. Seit diesem Jahr ist auch die Förderung eines nachhaltigen Gesundheitswesens ein erklärtes Ziel von smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland.
Nachhaltigkeit bedeutet dabei nicht eine schlechtere Versorgung – im Gegenteil: Co-Benefits ist ein Konzept aus der Klimapolitik, das eine Win-win-Strategie beschreibt, in der mit einer Massnahme oder Empfehlung zwei oder mehr Ziele erreicht werden können, ohne Kompromisse zwischen Klimaschutz und anderen Entwicklungszielen eingehen zu müssen [9]. Ein Beispiel ist die Reduktion von Über- und Fehlbehandlungen. Diese schaden nicht nur den Patientinnen und Patienten und verschwenden Ressourcen, sondern führen auch zu CO2-Emissionen und tragen somit direkt zum Klimawandel bei.
Der Weg zur Top-5-Liste
Die Idee zum aktuellen Projekt entstand in der vsao-Arbeitsgruppe Planetary Health. In Anlehnung an bereits bestehende Listen mit Empfehlungen (z. B. Choosing Wisely Canada) und im Sinne eines vertretbaren Aufwands beschloss die Arbeitsgruppe, dass die Top-5-Liste Planetary Health aus Empfehlungen der bereits publizierten Top-5-Listen zusammengesetzt werden soll [6, 7]. Dieses Vorgehen kann mit der Idee der Co-Benefits in Vereinbarung gebracht werden: Die Umsetzung von bestehenden Empfehlungen führt zu weniger CO2-Emissionen im Gesundheitswesen.
Initial beurteilte das Autorenteam alle der bestehenden Top-5-Listen mit Prioritätspunkten von null, eins oder zwei (null = keine Priorität für Planetary Health, eins = wenig Priorität für Planetary Health, zwei = starke Priorität für Planetary Health; Punkte-Range von null bis sechs Punkten).
Diese Beurteilung ergab sechs Empfehlungen mit sechs Punkten; drei Empfehlungen mit fünf Punkten und zehn Empfehlungen mit vier Punkten. Empfehlungen mit drei oder weniger Punkten wurden zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen und nicht mehr weiterverfolgt. Es ergab sich ein Total von 19 Empfehlungen, wovon eine aufgrund von Redundanz gestrichen wurde (zwei der hoch priorisierten Empfehlungen bezogen sich auf die ressourcenschonende Verschreibung und Durchführung von invasiven Installationen); es blieben somit 18 Empfehlungen, die das Autorenteam weiter diskutierte.
In der Gesprächsrunde wurde klar, dass die initial geplante Reduktion der Empfehlungen auf fünf einzelne Punkte die Planetary-Health-Sicht nicht zufriedenstellend abbilden kann. Im Sinne einer Zielmodifizierung beschloss das Autorenteam, anstelle von fünf Einzelpunkten fünf Kategorien zu schaffen, unter denen die 18 gewählten Empfehlungen subsumiert werden können.
Die Kategorien wurden im Rahmen einer neuen Diskussion im Plenum nach individueller Vorbereitung gemeinsam definiert und formuliert; die gewählten 18 Empfehlungen konnten in der Folge jeweils einer Kategorie zugeordnet werden.
smarter medicine: Top-5-Liste Planetary Health
In Klammern ist jeweils angegeben, welche Fachdisziplin die Empfehlung publiziert hat.
1. Keine Routinediagnostik ohne gezielte Fragestellung
- Keine regelmässigen ausführlichen Gesundheitschecks bei asymptomatischen Personen (Ambulante AIM 2021 II).
- Vermeiden Sie eine präoperative Routinediagnostik (Labor, EKG, Thoraxröntgen) bei Patientinnen und Patienten ohne relevante Systemerkrankung (Anästhesie 2018 I).
- Keine Verordnung umfangreicher Blut- oder Röntgenuntersuchungen in regelmässigen Abständen (z. B. täglich) ohne klinisch spezifische Fragestellung (Stationäre AIM 2016 I).
2. Vermeidung von Bildgebung bei tiefer Wahrscheinlichkeit für eine therapeutische Konsequenz der Befunde
- Beim akuten Schwindel sind initial eine gezielte Anamnese und eine klinische Untersuchung mittels 3-Stufen-Test HINTS oder Lagerungsprüfung wegweisend, nicht eine primäre Bildgebung (ORL, Hals- und Gesichtschirurgie 2019).
- Kein Röntgenbild bei einer OSG-Distorsion mit niedrigem Risiko für eine relevante Fraktur (Pädiatrie 2024 II).
- Vermeiden Sie diagnostische «Ganzkörper»-Computertomografien (CT) bei Patientinnen und Patienten mit geringfügigem oder Einzeltrauma (Chirurgie 2018).
3. Kritische Indikationsstellung von Interventionen/Installationen
- Verwenden Sie keine invasiven Instrumente (Katheter, Sonden, Drains), wenn kein Nutzen für die Patientin oder den Patienten zu erwarten ist, und bewerten sie deren Notwendigkeit immer wieder mit dem Ziel einer möglichst baldigen Entfernung (Intensivmedizin 2017).
- Beginnen Sie keine chronische Dialyse ohne Einbeziehung der Patientin oder des Patienten und ihrer/seiner Familie im Entscheidungsprozess (Nephrologie 2018).
- Kein arthroskopisches Débridement als Erstbehandlung bei Kniearthrosen (Orthopädie/Traumatologie 2024).
4. Reduktion von Übermedikation/-therapie
- Keine routinemässige Antibiotikagabe bei unkomplizierter Blasenentzündung und asymptomatischer Bakteriurie (Gynäkologie und Geburtshilfe 2022).
- Verabreichen Sie keine Breitbandantibiotika, ohne zu Beginn die Eignung der Behandlung und jeden Tag die Möglichkeit einer Deeskalation zu prüfen (Intensivmedizin 2017).
- Kein Verschreiben von Antibiotika gegen unkomplizierte Infekte der oberen Luftwege (Ambulante AIM 2014 I).
- Keine prophylaktische Antikoagulation bei Akutpatientinnen und -patienten mit geringem Risiko venöser thromboembolischer Ereignisse (Stationäre AIM 2023 II).
- Keine Erythrozytenkonzentrate auf der Grundlage willkürlicher Hämoglobin- oder Hämatokritgrenzwerte transfundieren, wenn keine Symptome vorliegen oder wenn bei früheren Transfusionen kein klinischer Nutzen erkennbar war (Palliativmedizin 2024).
- Keine systematische medikamentöse Behandlung erhöhter Blutdruckwerte während eines akuten Spitalaufenthalts (Stationäre AIM 2023 II).
5. Medizinische Entscheidungen am Lebensende
- Bei Patientinnen und Patienten mit einem signifikanten Risiko, zu sterben oder schwerwiegende Schäden davonzutragen, sind lebenserhaltende Massnahmen nur dann fortzusetzen, wenn mit der Patientin oder dem Patienten – oder den Angehörigen, die sie/ihn vertreten – zuvor die Behandlungsziele besprochen wurden, und zwar unter Berücksichtigung der Werte und persönlichen Wünsche der Patientin oder des Patienten (Intensivmedizin 2017).
- Keine Krebstherapie bei Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener/metastasierter Erkrankung beginnen, ohne gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten die Ziele respektive die funktionellen Vorteile der Behandlung zu definieren und die Unterstützung durch die Palliativmedizin zu berücksichtigen (Palliativmedizin 2024).
- Die Indikationsstellung für einen Eingriff bei erwartet hoher perioperativer Morbidität/Mortalität und terminalem Leiden soll vorgängig mit allen beteiligten Fachrichtungen und zusammen mit dem Patienten (shared decision making) durchgeführt werden (Anästhesie 2018 I).
Ein PDF der «smarter medicine: Top-5-Liste Planetary Health» können Sie hier herunterladen.
Ein «living document» für Klimaschutz im Gesundheitswesen
Das Autorenteam freut sich sehr über die Finalisierung der Top-5-Liste sowie über deren Annahme zur Publikation vom Vorstand von smarter medicine - Choosing Wisely Switzerland. Es bleiben einige Punkte anzumerken, um die Arbeit in einem grösseren Kontext einzuordnen:
Für die Liste erarbeiteten die Verantwortlichen keine neuen Empfehlungen. Auch übernahmen sie keine internationalen Empfehlungen, die sie für das Schweizer Gesundheitssystem anpassten. Es ging bei dieser Arbeit darum, die schon bestehenden Empfehlungen in das Licht von Planetary Health und Nachhaltigkeit zu rücken.
Eine potenzielle Schwäche der Arbeit liegt in der subjektiven Einschätzung durch das Autorenteam. Die Beurteilung der Empfehlungen erfolgte durch das kleine Plenum von drei Personen und ist von persönlichen Meinungen und Interessen sowie den medizinischen Fachgebieten des Autorenteams geprägt. Es ist anzunehmen, dass andere Fachpersonen nicht die gleichen Empfehlungen priorisiert hätten. Ebenso ist es nachvollziehbar, dass bei den Lesenden der Eindruck entstehen kann, dass gewisse medizinische Fachgebiete in der Liste nicht oder nur unzureichend repräsentiert sind. Das Projekt hat im Bewusstsein dieser Tatsachen stattgefunden. Wir erachten es als dringlicher, einen für uns wichtigen Beitrag zum Thema Klimaschutz im Gesundheitswesen zu leisten, als Perfektion anzustreben. Es ging uns darum, einen Schritt vorwärts zu kommen, indem wir diese Publikation wagen.
Als «living document» wird ein Dokument bezeichnet, das dynamisch ist, da es durch kontinuierliche Bearbeitung aktuell gehalten wird. Obwohl die vorliegende Top-5-Liste durch ihre Publikation eine gewisse Statik erlangen wird, sind wir als Autorenteam für Kritik an der Liste offen und bereit, sie als «living document» zu betrachten. Wir wünschen uns einen breiteren Dialog zum Thema Klimaschutz im Gesundheitswesen; sei es z. B. mit Gedanken zu Nachhaltigkeit und CO2-Emissionen in medizinischen Guidelines oder mit der Umsetzung von evidenzbasierten Empfehlungen zum Klimaschutz im Gesundheitswesen. Beispiele wären die Reduktion des Gebrauchs der besonders treibhausgasintensiven Dosieraerosol-Inhalatoren oder der Verzicht auf das hoch-volatile Anästhesiegas Desfluran [10, 11].
Die Gesundheit der Menschen ist direkt abhängig von der Umwelt, in der sie leben. Wir alle haben die riesige Chance, die Umwelt, in der wir in Zukunft leben werden, direkt mitzugestalten.
Korrespondenz: manuel.cina@spital.so.ch
Literatur
- Planetary Health – Strategie zu den Handlungsmöglichkeiten der Ärzteschaft in der Schweiz zum Klimawandel. FMH – Verbindung Schweizer Ärztinnen und Ärzte. 2021. Eingesehen auf: https://planetary-health.fmh.ch/files/pdf29/20210819-planetary-health---strategie-zu-den-handlungsmoeglichkeiten-der-aerzteschaft-in-der-schweiz.pdf (22.8.2025).
- Maibach E, Nisbet M, Weathers M. Conveying the Human Implications of Climate Change: A Climate Change Communication Primer for Public Health Professionals. Fairfax, VA: George Mason University Center for Climate Change Communication. 2011. P19.
- Beggs PJ, Bambrick HJ. Is the global rise of asthma an early impact of anthropogenicclimate change? Environ Health Perspect. 2005;113(8):915–9.
- Klima-Risikoanalyse für die Schweiz. Bundesamt für Umwelt, 2025. Eingesehen auf: https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/klima/publikationen-studien/publikationen/klimabedingte-risiken-und-chancen.html (22.8.2025).
- Hannah R. What share of global CO2 emissions come from aviation? 2024. Eingesehen auf: https://ourworldindata.org/global-aviation-emissions (22.8.2025).
- smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland. Top 5-Listen. Eingesehen auf: https://www.smartermedicine.ch/de/top-5-listen/ueber-top-5-listen (22.8.2025).
- Choosing Wisely & Climate Action. Choosing Wisely Canada. Eingesehen auf: https://choosingwiselycanada.org/climate (22.8.2025).
- ABIM Foundation. Choosing Wisely. Eingesehen auf: https://www.choosingwisely.org (22.8.2025).
- Mayrhofer JP, Gupta J. The Science and Politics of Co-Benefits in Climate Policy. Environ Sci Policy. 2016; 57, 22–30.
- Gupta S, et al. Canadian Thoracic Society Position Statement on Climate Change and Choice of Inhalers for Patients with Respiratory Disease. Can J Respir Crit Care Sleep Med. 2023;7(5):232–9.
- Gadani H, et al. Anesthetic gases and global warming: Potentials, prevention and future of anesthesia. Anesth Essays Res. 2011;5(1):5–10.