- Fokus: selten
Pause mit Seltenheitswert
Im medizinischen Alltag sind Unvorhergesehenes, Parallelarbeit, Fremdbestimmung und Zeitknappheit eine Normalität. Pause? Eher selten. Wie schafft man es also, durchzuhalten, ohne auszubrennen?
14.10.2025
Man kennt es allzu gut: Die Zeit drängt, vieles ist zu erledigen, an Pause ist nicht zu denken. Eigentlich sollten drei Berichte geschrieben, Frau Müller noch über die Medikamentenänderung informiert und die Kollegin aus der Kardiologie zurückgerufen werden – und dann ruft die Pflege an. Herrn Meier gehe es nicht gut, Sättigungsabfall. Ausserdem sei die Verordnung eines neuen Patienten noch unvollständig. Wo anfangen? Und schafft man das alles noch an diesem Spätnachmittag? Am besten zuerst das Dringliche: Zu Herrn Meier, dem es ja nicht gut geht. Aber wird die Kollegin aus der Kardiologie nachher noch erreichbar sein? Man ist ja schon ganz in der Nähe des Stationszimmers: vielleicht doch auf dem Weg zur Pflege schnell bei Frau Müller vorbei, um über die Medikamentenänderung zu informieren? Und schon ist man im «hurry-up syndrome» [1]: Anstatt kurz innezuhalten, sich einen Überblick über die Pendenzen zu verschaffen und diese entsprechend ihrer Dringlichkeit zu priorisieren, rennt man physisch und gedanklich noch schneller. Dies zulasten der Qualität und mit dem Risiko, einzelne Tasks zu vergessen.
Gezielte Pausen für höhere Qualität
Und dabei wissen wir, dass wir für «einfach schneller» auch eine höhere Fehlerquote in Kauf nehmen. Wie passiert das? Solange wir alles im Blick haben, die Aufgaben fordernd, aber nicht neu und überfordernd sind, arbeiten wir «skill-based», können also das Gelernte und Trainierte problemlos abrufen. Je komplexer, neuer und überfordernder eine Situation ist, desto höher ist der «cognitive load», also die Menge an kognitiver Arbeit, die es zu leisten gilt. Daher müssten wir langsamer werden, um die Situation kognitiv zu erfassen. Um also die Qualität aufrechtzuerhalten, wäre das Gegenteil des «hurry-up syndrome» richtig: Pause, sprich innehalten. Überblick verschaffen. Schon zehn Sekunden sind ausreichend, um die Performance in einer Notfallsituation zu verbessern [2]. Die Chirurgie hat dieses Wissen bereits seit einiger Zeit aus Praktiken der Luftfahrt übernommen und «verordnete» Pausen vor dem Schnitt bei einer Operation eingeführt. Dies hat zu verbesserter Qualität und Patientensicherheit geführt.
In den nicht operativen Bereichen fehlen solche Rituale, da weniger gut festgelegt werden kann, wann genau eine solche Pause nötig wäre. Doch hier liegt auch eine Chance: Pausen könnten selbstbestimmt dort in den Alltag eingebaut werden, wo sie am sinnvollsten sind. Zugegeben, das braucht etwas Übung und wird nicht auf Anhieb gelingen. Das Bewusstsein über die Wichtigkeit von Pausen und die Wahrnehmung des «hurry-up syndrome» können helfen, die richtigen Momente zu erkennen. Die Gewissheit, am Ende weniger Fehler zu machen, nichts Wichtiges zu vergessen und auch einmal durchgeatmet zu haben, macht uns zudem zufriedener und resilienter.
Lernen braucht Zeit und Fokus
Auch für das Lernen ist das bewusste Verlangsamen wichtig: Nur so kann Neues richtig eingeordnet und abgespeichert werden. Gerade zu Beginn der medizinischen Tätigkeit sind viele Tasks noch nicht «skill-based», können also nicht im Autopilot-Modus ausgeführt werden. Die zusätzliche Zeit, die man zu Beginn der Laufbahn für etwas Neues braucht, ist nicht nur normal, sondern für das Lernen wichtig. Doch man muss gewillt sein, sich bewusst auf einen Lernmodus einzustellen, der nicht ein «Erledigen-Modus» sein sollte.
Wenn Pausen der eigenen Resilienz, der Patientensicherheit und dem Lernen dienen – warum sind sie im medizinischen Alltag dann eine Seltenheit? Das Missverständnis liegt womöglich im Begriff der Pause selbst: Dem 15-minütigen Kaffeetrinken mit dem Handy in der Hand, die neuesten News konsumierend und damit den kognitiven Load nicht entlastend, wäre eine ultrakurze, aber bewusste Auszeit gegenüberzustellen.
Aus der neurophysiologischen Forschung wissen wir: Bereits sehr kurze Pausen reduzieren den Cortisolspiegel und machen übergreifendes und kreatives Denken wieder möglich. Dazu genügt bereits eine Minute des langsamen, diaphragmatischen Atmens (Achtung! Augen schliessen oder in die Ferne blicken). Noch schneller baut sich der Cortisolspiegel ab, wenn man lacht. Wenn es also zeitlich nicht einmal für tiefes Atmen reicht, warum also nicht einmal mit den Kolleginnen und Kollegen herzhaft über etwas lachen? Im besten Fall profitieren von diesen bewussten Pausen nicht nur Patientinnen und Patienten, sondern auch wir selbst.
Für die erwähnten 10-Sekunden- oder 1-Minute-Pausen braucht es nicht einmal die Erlaubnis der Vorgesetzten oder besonderen Mut, nur das Bewusstsein für deren Notwendigkeit. Eine Übung könnte ab morgen helfen: Jeden Abend retrospektiv mindestens eine Situation erkennen, in der eine Pause hilfreich gewesen wäre. Und vielleicht gelingt es schon bald, die Notwendigkeit in der Situation zu erkennen. Je häufiger man dies macht, umso automatischer geht es. Und im Zweifel kann man auch mal lachen …
Weiterführende Angebote
Selbstführung und Resilienz sind auch Thema im CAS «Leadership in Health Care Organisations» der Universität Bern. Nächste Durchführung: ab Januar 2026.
www.cas-leadership.ch
Auch der vsao bietet mehrmals pro Jahr Webinare und Workshops zu den Themen Resilienz und Zeitmanagement an – teilweise in Zusammenarbeit mit Christina Venzin.
www.vsao.ch/dienstleistungen/vsao-veranstaltungskalender
Literatur
- Lee JY, Szulewski A, Young JQ, Donkers J, Jarodzka H, van Merriënboer JJG. The medical pause: Importance, processes and training. Med Educ. 2021 Oct;55(10):1152-1160. doi: 10.1111/medu.14529. Epub 2021 May 1. PMID: 33772840; PMCID: PMC8518691.
- Rall M, Glavin R, Flin R. The ‘10-seconds-for-10-minutes principle’. Bull R Coll Anaesth. 2008.