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Häusliche Gewalt erkennen, bevor es zu spät ist

Personen, die in ihrem Umfeld Gewalt erleben, fallen meist nicht sofort auf. Jedoch gibt es einige Red Flags, die alle Ärztinnen und Ärzte kennen sollten.

Blaue Flecken und was noch? Häusliche Gewalt erkennen kann Leben retten. Illustration: Maksim Klopfstein
Blaue Flecken und was noch? Häusliche Gewalt erkennen kann Leben retten. Illustration: Maksim Klopfstein

Definition «Häusliche Gewalt»

Häusliche Gewalt umfasst alle Formen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt. Sie findet meist innerhalb des Haushalts statt, kann aber auch Personen aus aktuellen oder ehemaligen Beziehungen betreffen, die nicht im selben Haushalt wohnen. Opfer von häuslicher Gewalt können alle Personen unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Alter sein. Mitbetroffen sind häufig auch Kinder [1].

Laut Bundesamt für Statistik wurden 2024 in der Schweiz 179 Frauen von Männern beinahe getötet, schwer verletzt oder umgebracht [2]. Häusliche Gewalt ist nicht nur potenziell tödlich, sondern ein signifikanter Risikofaktor für gesundheitliche Beeinträchtigungen wie psychische Erkrankungen, Verletzungsfolgen, Schwangerschaftskomplikationen, chronische Schmerzen u. v. m. [3]. Die Kosten werden als sehr hoch eingeschätzt – allein in der Schweiz dürfte Gewalt in Paarbeziehungen das Gesundheitswesen mit jährlich mindestens 35 Millionen Franken belasten [4]. In Hausarztpraxen sind etwa 17 Prozent der Patientinnen und Patienten von häuslicher Gewalt betroffen [5]; in Notfallstationen ist der Anteil noch höher.

Viele Fälle bleiben unentdeckt

Ärztinnen und Ärzte sind grundsätzlich trainiert, kritische Situationen – sogenannte Red Flags – früh zu erkennen. Doch bei Betroffenen von häuslicher Gewalt gelingt dies oft nicht. Es wird vermutet, dass in der Schweiz trotz Projekten und Schulungen viele Fälle unentdeckt bleiben [6]. Wie in der Definition erwähnt, können alle Menschen davon betroffen sein [7, 8].

Die Möglichkeit innerfamiliärer Gewalt als Ursache einer medizinischen Konsultation oder auch als Begleiterscheinung sollte bei jeder Abklärung mitbedacht werden. Das Thema gehört ins diagnostische Standardrepertoire – wie etwa allfälliges Risikoverhalten oder Belastungen am Arbeitsplatz.

Beispiel aus dem Notfall

Eine 30-jährige Frau ohne bekannte Vorerkrankungen stellt sich in der Notaufnahme mit dem Hauptsymptom Nackenschmerzen vor. Während der Anamnese gibt die Patientin zunächst an, sie sei vor drei Tagen die Treppe hinuntergefallen, kann dazu aber keine Details berichten. Bei der körperlichen Untersuchung finden sich diskrete Hämatome und Einblutungen im Gesicht und am Hinterkopf. Typische Sturzverletzungen fehlen. Weiter finden sich beidseitige Hämatome am Hals mit diskreter Schwellung, rechts mehr als links. Die Patientin kann ihren Hals schmerzfrei in alle Richtungen bewegen.
Der Arzt fragt in einem geschützten Raum nach, was denn wirklich passiert sei. Da beginnt die Patientin zu weinen und offenbart, dass ihr Ehemann sie bei einem Streit mit einem Buch gegen den Kopf geschlagen und gewürgt habe. Er sei in den letzten zwei Jahren zunehmend aggressiv geworden und trinke immer öfter am Abend Alkohol. Dann sei er jeweils besonders schnell reizbar, und es komme in immer kürzeren Abständen zu gewaltsamen Ausbrüchen. Er habe sich verändert, sie habe Angst, es könnte etwas Schlimmeres passieren und möchte sich von ihm trennen.

Hilfreiche Unterlagen

Zum Umgang mit dem Thema häusliche Gewalt im Gesundheitswesen gibt es für die Schweiz hilfreiche Unterlagen, zum Beispiel bei der Bildungsstelle Häusliche Gewalt Luzern oder als Broschüre bei migesplus.ch.

Wichtig ist die Risikoeinschätzung, besonders auf Notfallstationen. Nicht alle Betroffenen berichten beim ersten Kontakt offen – und nicht alle Fachpersonen denken daran, gezielt nachzufragen. Indikatoren für drohende schwere Gewalt sollten allen Gesundheitsfachpersonen bekannt sein. Fragekataloge dazu finden sich z. B. in der migesplus-Broschüre.

Red Flags erkennen und handeln

Die EU-Plattform Improdova, eine weitere sehr hilfreiche Ressource, nennt folgende Indikatoren und Risikofaktoren:

  • Plötzlicher Verhaltenswandel beim Täter oder bei der Täterin
  • Aussagen wie: «Er/Sie macht mir Angst.»
  • Gewalt gegen Tiere
  • Substanzmissbrauch
  • Angriff gegen den Hals
  • Schwangerschaft
  • Trennung/Scheidung
  • Sorgerechtsverlust
  • Verstösse gegen Kontaktverbote

Besondere Risiken bestehen, wenn Kinder oder vulnerable Personen wie betagte Menschen betroffen sind.

Das oben beschriebene Fallbeispiel zeigt mehrere dieser Red Flags und macht den Handlungsbedarf deutlich – insbesondere, wenn Angst vor Eskalation geäussert wird. Eine solche Äusserung von Betroffenen selbst ist einer der aussagekräftigsten Risikofaktoren [9].

Ideal wäre in solchen Fällen ein Aufenthalt in einem Frauenhaus mit begleitender Opferhilfe. Dafür braucht es auf Notfallstationen und in Praxen leicht zugängliche Informationen und Kontaktadressen. Auch die Behörden können einbezogen werden – etwa durch eine Strafanzeige oder eine Gefährdungsmeldung bei der KESB. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind kantonal geregelt und sollten in Leitfäden in den Praxen und Spitälern hinterlegt sein.

Häusliche Gewalt – dran denken bei:

  • unerklärten oder inkohärenten Verletzungen, besonders an Kopf, Hals und Armen,
  • chronischen Beschwerden ohne klare somatische Ursache,
  • psychischen Belastungen, ausgeprägter Stresssymptomatik, Schlafstörungen, Suizidalität, Angst- und Panikstörungen u. a.,
  • gynäkologischen Problemen, Verletzungen während der Schwangerschaft, chronischen Beckenschmerzen u. a.

Täterinnen und Täter ansprechen

Eine oft vergessene und spezielle Herausforderung ist die Identifikation und Ansprache möglicher Täterinnen und Täter. Von diesen suchen nämlich 70 Prozent vor einer Eskalation die ärztliche Praxis auf, meistens mit ausgeprägter Stresssymptomatik, Schlafstörungen, Kopf- oder Rückenschmerzen und vermehrtem Alkoholkonsum [11]. Viele schämen sich, das Thema anzusprechen, oder haben Angst vor den Konsequenzen. Gerade vor schweren Gewalttaten sehen sich viele in einer Krise. Hier wäre der Weg offen, über medizinische Massnahmen Alternativen zu Gewalt zu schaffen und damit den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Eine wichtige Rolle spielen hier die sogenannte Täterarbeit sowie Anlauf- und Beratungsstellen für Täterinnen und Täter als Teil der sogenannten Interventionskette (siehe auch IAMANEH Schweiz).

Der diagnostische Prozess bei Verdacht auf häusliche Gewalt

  • Fokussierte Anamnese unter vier Augen! Eventuell Screening [10].
  • Fragekatalog einsetzen zur Risikoevaluation (siehe Broschüre bei migesplus.ch).
  • Körperliche Untersuchung mit vollständiger Dokumentation aller Verletzungen mit Massstab (Fotos und Einzeichnen in Körperschemata).
  • Risikobeurteilung: Notfall oder nicht? Akute Bedrohung an Leib und Leben (Suizidalität)? Betroffene Kinder? Einsatz von Waffen? Würgen? u. a.
  • Interdisziplinäres Prozedere mit Einbezug von Fachstellen oder spezialisierten Fachpersonen. Erstellen eines Sicherheitsplans mit der betroffenen Person. Vermitteln von Hilfsangeboten. Eventuell Strafanzeige oder Gefährdungsmeldung nach Empfehlung von Opferhilfestellen.

Literatur

  1. Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau (EBG). Häusliche Gewalt. www.ebg.admin.ch/de/hausliche-gewalt (10.4.2025).
  2. Bundesamt für Statistik: Häusliche Gewalt: Geschädigte Personen nach Alter und Geschlecht. www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaet-strafrecht/polizei/haeusliche-gewalt.assetdetail.34387325.html (10.4.2025).
  3. Campbell J. C. Health consequences of intimate partner violence. Lancet. 2002;359(9314):1331–1336. doi:10.1016/S0140-6736(02)08336-8.
  4. Stern S., Fliedner J., Schwab S., Iten R. (2013). Kosten von Gewalt in Paarbeziehungen. Kurzfassung. www.infras.ch.
  5. Feder G. et al. (2011). Identification and Referral to Improve Safety (IRIS) of women experiencing domestic violence with a primary care training and support programme: a cluster randomised controlled trial. Lancet 2011; 378:1788–1795.
  6. Hostettler-Blunier S. et al. (2018). Häusliche Gewalt am universitären Notfallzentrum Bern: Eine retrospektive Analyse von 2006 bis 2016. Praxis 2018 107:16, 886–889.
  7. Klopfstein-Bichsel U., Wenk J. (2024). Was lange währt, bleibt nicht immer gut. Gewalt an älteren Personen erkennen und richtig handeln. NOVAcura, 55(9):1–5.
  8. Galop – National Helpline for LGBT+ Victims and Survivors of Abuse and Violence (2021). Fact sheet «Myths and Stereotypes About Partner Abuse Among Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender (LGBT+) People». https://www.galop.org.uk/resources/myths-and-stereotypes-about-abuse-among-lgbt-people (10.4.2024).
  9. Gondolf, E. W. (2002). Batterer Intervention Systems: Issues, Outcomes and Recommendations, Sage Publications, Thousand Oaks, 174.
  10. Punukollou M. (2003). Domestic violence: Screening made practical. The Journal of Family Practice. Jul;52(7):537–543. PMID: 12841970.
  11. Hester et al. (2006). Domestic Violence Perpetrators: Identifying Needs to Inform Early Intervention. Report of a research project commissioned by the Northern Rock Foundation and the Home Office. University of Bristol and Home Office.

Weiterführende Literatur

  • Choo E. K., Houry D. E. (2015). Managing Intimate Partner Violence in the Emergency Department. Ann Emerg Med. Vol. 65, Issue 4; 65:447–451. doi: 10.1016/j.annemergmed.2014.11.004.
  • Dowrick A., Feder G., Kelly M. Boundary-Work and the Distribution of Care for Survivors of Domestic Violence and Abuse in Primary Care Settings: Perspectives From U. K. Clinicians. Qualitative Health Research. 2021;31(9):1697–1709. doi: 10.1177/1049732321998299.
  • Montesanti, S., Goveas, D., Bali, K. et al. Exploring Factors Shaping Primary Health Care Readiness to Respond to Family Violence: Findings from a Rapid Evidence Assessment. J Fam Viol (2023). doi: 10.1007/s10896-023-00677-6.
  • Moreira, D. N., Pinto da Costa, M. The role of family doctors in the management of domestic violence cases – a qualitative study in Portugal. BMC Health Serv Res 23, 571 (2023). doi: 10.1186/s12913-023-09501-9.
  • Schröttle M., Hornberg C. et al. (2014). Gesundheitliche Folgen von Gewalt gegen Frauen – Gesundheits-, Versorgungs- und Kostenfolgen. BMG.
  • SRF (2025). EGMR verurteilt Schweiz: Frau ungenügend vor Gewalt geschützt. www.srf.ch/news/international/gerichtshof-fuer-menschenrechte-egmr-verurteilt-schweiz-frau-ungenuegend-vor-gewalt-geschuetzt (10.4.2025).