- Fokus: Global Health
Die menschlichen und moralischen Kosten von Migration
Migration kann sich auf die Gesundheit von Menschen auswirken, stellt aber auch medizinisches Personal vor ethische Herausforderungen. Was geboten wäre, um Patientinnen und Patienten bestmöglich zu versorgen, gerät mitunter in Konflikt mit lokalen migrationspolitischen Vorgaben.
12.08.2025
Ein Mann in den Zwanzigern kam spätabends an der Küste von Samos an – sichtbar verzweifelt suchte er unsere Aufmerksamkeit: Er brauchte Wasser und Insulin und zeigte klare Anzeichen von Dehydrierung. Er bat uns, seinen Blutzucker zu messen – unterwegs hatte er seine Medikamente verloren. Das Gerät zeigte «HI» an – einen Wert über 27 mmol/l. Wir wandten uns an die Polizei und baten darum, ihn direkt ins Spital statt in die Haftanstalt zu bringen. Glücklicherweise stimmten sie zu. – Dr. Maria Guevara, während der medizinischen Notfallmassnahme, Dezember 2024
Migration ist ein Thema, das in Europa von Zeit zu Zeit für Schlagzeilen sorgt. 2024 stieg die weltweite Zahl der gewaltsam vertriebenen Menschen weiter an und beläuft sich nun auf 120 Millionen. Laut Europäischer Kommission [1] stammen über 70 Prozent dieser Geflüchteten aus nur fünf Ländern: Afghanistan, Venezuela, Syrien, Ukraine und Sudan. Diese Zahlen repräsentieren Menschen, die aufgrund von Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen oder Verfolgung sowie durch klimabedingte Katastrophen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen.
Hier berichten wir aus der Sicht der Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF), die auf der griechischen Insel Samos tätig sind, wo die Aufnahme von Menschen an der europäischen Küste allzu oft von Feindseligkeit und Vernachlässigung geprägt ist. Wir haben Samos als Beispiel gewählt, weil Migrantinnen und Migranten, die nach Europa gelangen wollen, meistens den Weg über Griechenland nehmen. Zudem sind die Grenzpraktiken des Landes eng mit der Politik der Europäischen Union verknüpft. Bei der Leistung humanitärer Hilfe sehen sich unsere Mitarbeitenden einem komplexen Arbeitsumfeld gegenüber, in dem einwandernde Personen nach behördlichen Vorgaben bei ihrer Ankunft als «illegal» eingestuft und Asylsuchende kriminalisiert werden.
Die komplexe Realität auf europäischem Boden
Die Teams von Ärzte ohne Grenzen beobachten eine wachsende Zahl von Asylsuchenden, die auf dem Seeweg nach Samos kommen (Anstieg von 2099 im Jahr 2022 auf 9969 im Jahr 2024). Unter ihnen befinden sich unbegleitete Minderjährige, Schwangere, Neugeborene und ältere Menschen. Sie sind erschöpft, durstig, hungrig und leiden unter den harten Witterungsbedingungen wie auch unter dem langen Aufenthalt im Salzwasser. Sie sind mit Kratzern und blauen Flecken übersät. Die Menschen kommen in einem Zustand emotionaler Verzweiflung an, viele haben bereits mehrere Pushbacks erlebt, bevor sie endlich an Land ankommen.
Migrantinnen und Migranten sind oft gezwungen, aus einer prekären humanitären Krisensituation zu fliehen, nur um sich dann in einer weiteren Krise wiederzufinden, die sich manchmal noch gewalttätiger äussert. Viele unserer Patientinnen und Patienten beschreiben, dass sie in einem Teufelskreis der Gewalt gefangen sind; sie sprechen von körperlichen Übergriffen, sexualisierter Gewalt, Erpressung, Handschellen bei der Ankunft, informellem Gewahrsam und demütigenden Leibesvisitationen. Die Folgen für die psychische Gesundheit sind beträchtlich. Viele leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die häufig mit Gewalt zusammenhängt, die Geflüchtete unterwegs oder in ihrem Herkunftsland erlebt haben. Abgesehen von der grundlegenden Notfallversorgung trifft Ärzte ohne Grenzen auf Patientinnen und Patienten mit ähnlichen gesundheitlichen Problemen wie Europäerinnen und Europäer – wobei es jedoch vielen an Medikamenten zur Bekämpfung chronischer, nicht übertragbarer Krankheiten fehlt und Kinder keine Routineimpfungen erhalten.
Schwieriges ethisches Spannungsfeld
Auch für Fachkräfte ist es keine einfache Situation: Im Kontext von Migration bewegen sie sich in einem komplexen Spannungsfeld, das sie oft vor ethische Dilemmata stellt. Was berufsethisch und moralisch geboten wäre, um Patientinnen und Patienten bestmöglich zu versorgen, gerät mitunter in Konflikt mit lokalen migrationspolitischen Vorgaben. Während Ärzte ohne Grenzen regelmässig innerhalb der Struktur der lokalen Behörden arbeiten, sind die Arbeitsbedingungen auf Samos besorgniserregend. Solidarität wird als kriminalisiert empfunden, und Mitarbeitende fühlen sich davon abgehalten, denjenigen medizinisch zu helfen, die als «illegal» gelten. Doch ohne diese Bedingungen zu akzeptieren, kann Ärzte ohne Grenzen keine Hilfe leisten – es gibt demnach keine richtige Wahl.
Wenn in Samos beispielsweise ein Boot ankommt, entscheiden nicht-medizinische Einsatzkräfte in Uniform über die medizinische Versorgung der Menschen. Das Vorgehen erscheint oft willkürlich und subjektiv. Einige Behörden handeln umsichtig und mit Empathie, während andere die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte spürbar einschränken. Unsere Mitarbeitenden kämpfen darum, das medizinische Gebot und die ärztliche Unparteilichkeit aufrechtzuerhalten, d. h. zuerst die Bedürftigsten und alle Patientinnen und Patienten zu versorgen, unabhängig von ihrem rechtlichen Status. Auch wenn sich die Situation im Vergleich zu den Vorjahren verbessert hat, ist es doch erschütternd, nicht in der Lage zu sein, die Pflege zu leisten, für die man ausgebildet ist.
Dies stellt ein tiefgreifendes ethisches Dilemma der doppelten Loyalität dar, bei dem die Pflicht gegenüber den Patientinnen und Patienten durch eine Verpflichtung gegenüber einer Behörde oder einer gesellschaftlichen Norm beeinträchtigt wird [2]. Die Aufforderung, zu reagieren und mitfühlend zu handeln, gilt für alle Fachkräfte. Aber der Druck, dem sie ausgesetzt sind, muss nicht nur von den einzelnen Fachkräften, sondern auch von der Gesellschaft mitgetragen werden.
Literatur
- Europäische Kommission. Forced displacement—European Commission. May, 2024. https://civil-protection-humanitarian-aid.ec.europa.eu/what/humanitarian-aid/forced-displacement_en
- Sirkin S, Hampton K, Mishori R. Health Professionals, Human Rights Violations at the US-Mexico Border, and Holocaust Legacy. AMA J Ethics, 2021:23(1), E38-45. doi: 10.1001/amajethics.2021.38