- Forschung und Praxis
Pillenwahnsinn im Alter: Ursachen, Auswirkungen und Lösungsansätze der Polypharmazie
Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl der eingenommenen Medikamente, zugleich verändern sich Pharmakokinetik und -dynamik. Um unerwünschte Wirkungen zu vermeiden, gibt es verschiedene Hilfsmittel.
09.12.2025
Das Ausmass der Polymedikation, definiert als die regelmässige Einnahme von ≥5 Medikamenten, variiert je nach Land, Altersgruppe und Setting. Auch wenn die Schweiz im europaweiten Vergleich zu den Ländern mit der niedrigsten Prävalenz gehört, steigt diese mit zunehmendem Alter beträchtlich [1]. So wird in der hausärztlichen Versorgung bei 65- bis 80-Jährigen eine Prävalenz von 45,3 Prozent mit einem Anstieg auf 64,6 Prozent bei den 81- bis 92-Jährigen verzeichnet, bei Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern liegt sie bei 86 Prozent [2, 3]. Bei beinahe 80 Prozent der Menschen in Pflegeheimen liegt zudem gemäss Meyer-Massetti et al. eine potenziell inadäquate Medikation vor [3]. Aufgrund der mit der Polymedikation assoziierten Risiken wie Sterblichkeit, Stürzen, Hospitalisationen, Medikamenteninteraktionen und unerwünschten Medikamentenwirkungen, Malcompliance und somit erhöhten Gesundheitskosten stellt die Polymedikation ein zentrales Thema dar [1].
Ursachen der Polymedikation
Mit zunehmendem Alter und zunehmender Anzahl an Komorbiditäten führt eine Behandlung, die sich streng nach krankheitsspezifischen Leitlinien richtet, fast zwangsläufig zur Polymedikation. Problematisch ist, dass ältere, multimorbide Menschen häufig von Studien, auf denen die Leitlinien basieren, ausgeschlossen sind. Ziel der Behandlung von älteren, polymorbiden Personen sollte somit eine evidenzbasierte Medizin sein, die nicht nur die krankheitsspezifischen Evidenzen berücksichtigt, sondern auch die klinische Erfahrung und die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen [4].
Jedoch stellen nicht nur das Alter und die Komorbiditäten ein Problem dar, sondern auch die Betreuung durch mehrere Fachpersonen, die unzureichende Kommunikation untereinander und inkomplette Medikationslisten. Des Weiteren kommt es nicht selten zu Verschreibungskaskaden, bei denen unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln mit weiteren Medikamenten behandelt werden, anstatt das auslösende Medikament zu wechseln. Hinzu kommt, dass erfolglose Behandlungen oder erfolgreiche Therapien bei passageren Beschwerden oder einer Veränderung des initialen Krankheitsbildes nicht abgesetzt werden [5].
Veränderung der Pharmakokinetik und -dynamik
Häufig unterschätzt wird die sich mit dem Alter verändernde Pharmakokinetik und -dynamik. So verringern sich unter anderem die renale Clearance und der First-Pass-Metabolismus der Leber. Auch sind die Verteilungsvolumina verändert, sodass es zu höheren Konzentrationen von hydrophilen Arzneimitteln und einer Verlängerung der Eliminationshalbwertszeit von lipophilen Arzneimitteln kommt. Daneben sind die Regulationsprozesse häufig gestört, was die Fähigkeit verringert, unter physiologischem Stress die Homöostase aufrechtzuerhalten. Der Verlust neuronaler Substanzen, eine verminderte synaptische Aktivität und eine schnellere Penetration von Medikamenten in das zentrale Nervensystem tragen ebenfalls zu einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber gewissen Medikamenten bei. Auch Schwankungen des Albuminspiegels, die häufig bei akuten Erkrankungen oder Unterernährung vorkommen, sind relevant, da hierdurch die freie Konzentration eines Medikaments verändert wird [6].
Besondere Vorsicht ist beispielsweise bei Medikamenten mit anticholinerger Wirkung geboten, da diese häufig mit einer kognitiven Verschlechterung, Obstipation, Harnverhalt und orthostatischer Hypotonie vergesellschaftet sind [6].
Aufgrund der veränderten Regulationsmechanismen werden in der Altersmedizin auch je nach Komorbiditäten andere Zielblutdruckwerte angestrebt: Hierbei muss insbesondere die Reduktion des kardiovaskulären Risikos gegen das Risiko von Schwindel, Orthostase, Dyselektrolytämien und Stürzen abgewogen werden [6].
Auch bei der Diabetes-Einstellung bedarf es einer Nutzen-Risiko-Abwägung, da vor allem bei gebrechlichen über 85-Jährigen die benötigte Zeit, um die Vorteile einer strengen Blutzuckereinstellung zu erleben, ihre Lebenserwartung häufig übersteigt und gegen die Risiken einer Hypoglykämie abgewogen werden muss [6].
Bei der Anwendung von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) ist wegen des Risikos für Hyperkaliämie, Hypertonie, Verschlechterung der Herzinsuffizienz, Nierenversagen und gastrointestinale Blutungen bei älteren Personen besondere Vorsicht geboten [6].
Im Zusammenhang mit Antipsychotika wurde von einem erhöhten Risiko für plötzlichen Herztod, Lungenentzündung aufgrund von Schluckbeschwerden, die möglicherweise durch die anticholinerge Wirkung bedingt sind, sowie Thromboseneigung berichtet [6].
Benzodiazepine haben aufgrund der Anreicherung im Fettgewebe im Alter tendenziell eine verlängerte Halbwertszeit. Zudem besteht wegen der erhöhten Empfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff ein Risiko für die Entwicklung eines Delirs, Schwindel, Beeinträchtigung der Psychomotorik und Stürze [6].
Trizyklische Antidepressiva sind für die Behandlung von Depressionen bei geriatrischen Patientinnen und Patienten möglichst zu vermeiden, dies wegen des unter anderem durch die anticholinerge Wirkung bedingten ungünstigen Nebenwirkungsprofils. Hier wären alternative Antidepressiva der zweiten Generation wie Citalopram, Escitalopram oder Sertralin zu bevorzugen. Auch Mirtazapin und Trazodon weisen ein günstigeres Nebenwirkungsprofil auf [6]. Auch wird in der antidepressiven Augmentationstherapie mit Lithium bei älteren Personen ein tieferer Spiegel von 0,4–0,6 mmol/l angestrebt; dies aufgrund der zu erwartenden Nierenfunktionsverschlechterung und häufigen Komedikation, die den Wasser- und Elektrolythaushalt beeinflussen [6, 7].
Praktische Strategien im Umgang mit Polymedikation
Um potenziell inadäquate Medikamente, bei denen das Risiko einer unerwünschten Wirkung den Nutzen übersteigt und sicherere und/oder wirksamere Alternativen vorhanden wären, zu vermeiden, stehen verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung (siehe unten) [8].
Vor der Anwendung neuer Medikamente sollten sämtliche bisherigen Medikamente auf einer Übersichtsliste festgehalten werden. Die Patientinnen und Patienten sollten instruiert werden, sich bei extern stattgehabten Medikationsanpassungen bei ihrer Hausärztin oder ihrem Hausarzt zu melden. Ebenfalls sollten involvierte Behandelnde den Hausärztinnen und -ärzten stets eine Rückmeldung geben [4].
- Für das Deprescribing kann z. B. der Algorithmus Good Palliative Geriatric Practice (GPGP), modifiziert nach Garfinkel, zur Überprüfung der Medikation bei hochbetagten/palliativen Personen angewendet werden [4, 9]:
- Überprüfung einer Unter-/Überbehandlung mittels START/STOPP-Kriterien [4].
- Potenziell ungeeignete Medikamente inkl. Alternativen, Dosisanpassung und Monitoring: PRISCUS-Liste [4].
- Hilfestellung zur Nutzen-Risikobewertung: FORTA-Klassifikation [4].
- Prognoseeinschätzung und «Time to benefit»-Angabe mittels ePrognosis: https://eprognosis.ucsf.edu
- Einschätzung der anticholinergen Wirkstärke von Medikamenten: www.acbcalc.com
Literatur
- Bonanno EG, Figueiredo T, Mimoso IF, Morgado MI, Carrilho J, Midão L, Costa E. Polypharmacy Prevalence Among Older Adults Based on the Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe: An Update. J Clin Med. 2025 Feb 17;14(4):1330. doi: 10.3390/jcm14041330. PMID: 40004860; PMCID: PMC11856818.
- Rachamin Y, Jäger L, Meier R, Grischott T, Senn O, Burgstaller JM, Markun S. Prescription Rates, Polypharmacy and Prescriber Variability in Swiss General Practice – A Cross-Sectional Database Study. Front Pharmacol. 2022 Feb 14;13:832994. doi: 10.3389/fphar.2022.832994. PMID: 35237170; PMCID: PMC8884695.
- Meyer-Massetti C, Osińska M, Welte N, Zúñiga F. Medication-related infrastructure and medication reviews in nursing homes – a rapid appraisal study. BMC Health Serv Res. 2025 Apr 2;25(1):495. doi: 10.1186/s12913-025-12505-2. PMID: 40176007; PMCID: PMC11967028.
- Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich: Guideline Polypharmazie (2023): www.guidelines.fmh.ch/downloads/23084128/download-de.pdf (27.8.2025).
- Gelbe Liste: Polymedikation. www.gelbe-liste.de/arzneimitteltherapiesicherheit/polymedikation
- Ngcobo NN. Influence of Ageing on the Pharmacodynamics and Pharmacokinetics of Chronically Administered Medicines in Geriatric Patients: A Review. Clin Pharmacokinet. 2025 Mar;64(3):335–367. doi: 10.1007/s40262-024-01466-0. Epub 2025 Jan 11. Erratum in: Clin Pharmacokinet. 2025 Mar;64(3):463. doi: 10.1007/s40262-025-01494-4. PMID: 39798015; PMCID: PMC11954733.
- Nardi M, Anwander M, Rüegger-Frey B, Bopp-Kistler I. Es gibt nicht nur die Alzheimer-Demenz. Praxis. 2012 Jul 25;101(15):977–981. doi: 10.1024/1661-8157/a001006. PMID: 22811332.
- Corsonello A, Onder G, Abbatecola AM, Guffanti EE, Gareri P, Lattanzio F. Explicit criteria for potentially inappropriate medications to reduce the risk of adverse drug reactions in elderly people: from Beers to STOPP/START criteria. Drug Saf. 2012 Jan;35 Suppl 1:21–28. doi: 10.1007/BF03319100. PMID: 23446783.
- Neuner-Jehle S, Krones T, Senn O: Systematisches Weglassen verschriebener Medikamente ist bei polymorbiden Hausarztpatienten akzeptiert und machbar. PRAXIS 2014;103(6):317–322.