• Aufgefallen

Die letzten Gedanken eines Menschenfreunds

Mit neurologischen Fallgeschichten begeisterte Oliver Sacks eine grosse Leserschaft. In seinem letzten Werk – eine bewegende Sammlung von vier Essays, die er angesichts einer unheilbaren Krebserkrankung schrieb – widmete er sich jedoch für einmal seinem eigenen Leben.

Oliver Sacks’ letztes Buch «Dankbarkeit» ist zwar dünn, jedoch voller Witz und Tiefe. Bild: zvg
Oliver Sacks’ letztes Buch «Dankbarkeit» ist zwar dünn, jedoch voller Witz und Tiefe. Bild: zvg

«Wow – das ist ein Arzt, der gleichermassen als Mediziner und Autor stark ist.» Dies dachte ich, als ich anfangs des Medizinstudiums das Buch «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» von Oliver Sacks las. Mit seinen neurologischen Fallgeschichten hat Oliver Sacks Millionen von Lesenden weltweit erstaunt. Mit der narrativen Medizin förderte er die Empathie und das Einfühlungsvermögen für Menschen, die auf den ersten Blick aufgrund einer Hirnveränderung oder ‑verletzung als krank oder eingeschränkt abgestempelt wurden, jedoch bei näherer Betrachtung besondere Fähigkeiten besassen. Er führte den Lesenden damit vor Augen, dass unser Realitätsempfinden im Kopf entsteht und dass «Normalität» ein weniger festgeschriebener Begriff ist, als wir es gerne wahrhaben wollen.

Aufgefallen: Empfehlungen der Redaktion

Unter «Aufgefallen» stellen Mitglieder der Redaktion Bücher, Filme und andere Inhalte vor, die auch für andere Ärztinnen und Ärzte spannend sein könnten.

Reflexionen angesichts des Todes

Noch mehr beeindruckt als «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», das zugleich sein berühmtestes Buch ist, hat mich das Büchlein «Dankbarkeit»; eine Reihe von vier Essays, die der unheilbar an Krebs erkrankte Sacks im Angesicht seines nahen Ablebens geschrieben hat.

«Ich habe den Tod vor Augen, aber mit dem Leben noch nicht abgeschlossen.» So beginnt das kleine Buch «Dankbarkeit», das nach seinem Tod 2015 erschienen ist. Die vier darin enthaltenen, beinahe meditativen Texte zeigen die Auseinandersetzung eines klaren und gelassenen Geistes mit dem Altern, dem Tod und der Dankbarkeit.

Der erste Essay «Quecksilber», den Sacks wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag verfasst hat, ist eine Reflexion des eigenen Alterns, verpasster Chancen und letztlich des Glücks, Vergänglichkeit erfahren zu können. In den folgenden drei Essays denkt er über das nach, was er bis zu seinem Tod noch erreichen will, und über den Trost, den die Naturwissenschaften ihm das ganze Leben lang gespendet haben. Auch spricht er eine tiefe Dankbarkeit für sein Leben aus.

Nach der Verschlechterung seines Allgemeinzustandes schrieb er den Essay «Sabbat», den er zwei Wochen vor seinem Tod veröffentlicht hat. Sacks reflektiert darin die Religion, der er aufgrund der eigenen Sexualität den Rücken gekehrt hat, die Wiederaufnahme im Kreise der Familie und die Frage, was es heisst, ein gutes, erstrebenswertes Leben zu führen, sodass man am siebten Tag der Lebenswoche ruhen kann.

Einladung in die eigene Realität

Im Büchlein «Dankbarkeit» lädt Oliver Sacks die Lesenden für einmal in seine eigene Gedankenwelt ein. Statt Fallbeispiele zu beleuchten, gibt er Einblick in seine eigene Realität und lässt uns an den intimen Gedanken seiner letzten Monate teilhaben. Die Texte sind in seinem wohlbekannten, klaren Stil geschrieben, oft mit Witz und dennoch tiefgründig. Ein Buch, das man am Ende eines langen Arbeitstages vom Nachttisch nimmt, um sich bei all dem Nachbrennen des Alltagslärms nochmals auf das Innere des Menschen zu besinnen.

«Ich habe geliebt und wurde geliebt, ich habe viel bekommen und etwas zurückgegeben. Vor allem aber war ich ein fühlendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem schönen Planeten, und das allein schon war ein wunderbares Privileg und Abenteuer.»