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«Beim Schutz der Ärztinnen und Ärzte gibt es noch Luft nach oben»

Als erfahrener Arbeitsmediziner weiss Leonhard Sigel, wie es um die Arbeitssicherheit in Schweizer Spitälern steht. In welchen Bereichen Verbesserungen nötig sind, warum sich diese lohnen und was Ärztinnen und Ärzte zu ihrem eigenen Schutz tun können, verrät er im Gespräch.

Personen, die nachts arbeiten, sind besonders vulnerabel. Um gesund zu bleiben, benötigen sie besonderen Schutz. Bild: Adobe Stock / ReeseArcurs/peopleimages.com
Personen, die nachts arbeiten, sind besonders vulnerabel. Um gesund zu bleiben, benötigen sie besonderen Schutz. Bild: Adobe Stock / ReeseArcurs/peopleimages.com

Leonhard Sigel, Sie vertreten den vsao in der Fachkommission Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz des Spitalverbands H+. Was bedeutet «Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz»?

Darunter verstehen wir alles, was nötig ist, damit Arbeitnehmende abends – oder auch morgens – unfallfrei und gesund nach Hause gehen. Das mag selbstverständlich klingen, ist es aber nicht. Die gesetzlich geregelte Fürsorgepflicht des Arbeitgebenden verpflichtet diesen, alle Massnahmen zum Schutz der Mitarbeitenden zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes angemessen sind.

In Spitälern gibt es viele Sicherheitsvorschriften. Inwiefern reicht dies aus, um die Sicherheit des Personals zu gewährleisten?

Momentan ist es so, dass vielerorts der Fokus auf der Patientensicherheit liegt. Beim Schutz der Ärztinnen und Ärzte gibt es also noch Luft nach oben. Durch den Fachkräftemangel erkennen aber immer mehr Betriebe, wie wichtig der Schutz der Mitarbeitenden ist – übrigens auch ein wichtiges Thema aus unternehmerischer Sicht. Denn die Suva rechnet pro Absenztag von Mitarbeitenden mit Kosten von 1000 Franken – was deutlich mehr ist als ein Durchschnittslohn.

Gefährdungen im Arztberuf

Ärztinnen und Ärzte sind verschiedenen Gefährdungen ausgesetzt. Dazu gehören:

  • biologische Gefährdungen (Körperflüssigkeiten, Viren, Bakterien usw.)
  • chemische Gefährdungen (Medikamente, Narkosegase, Zytostatika usw.)
  • ionisierende und nicht ionisierende Strahlung (Laser, Röntgen, MRI usw.)
  • aggressive Patientinnen und Patienten oder Angehörige
  • anhaltende Belastungen (Zeit- und Leistungsdruck, Nacht- und Schichtarbeit, fehlende Erholung usw.)
  • Fehlbelastungen durch ergonomisch ungünstig eingerichtete Arbeitsplätze
  • Unfallrisiko durch Müdigkeit nach Nachtdiensten

Wo besteht der grösste Handlungsbedarf?

Da möchte ich gerne drei Bereiche hervorheben. Zum einen ist dies die Nacht- und Schichtarbeit. Der Gesetzgeber sieht einen Sonderschutz vor für Menschen, die nachts oder in Schichten arbeiten. Dazu gehört eine zweijährliche Beratungsuntersuchung, die leider nicht flächendeckend umgesetzt wird. Wir wissen, dass Nacht- und Schichtarbeit mit einigen gesundheitlichen Risiken assoziiert ist. Dazu gehören Schlafstörungen, Bluthochdruck, Stoffwechselstörungen wie Übergewicht oder Diabetes, und auch psychische Auswirkungen sind möglich. Hinzu kommt das Unfallrisiko auf dem Heimweg. In der Beratungsuntersuchung geht es darum, Anzeichen für solche Risiken frühzeitig zu erkennen und mit den Betroffenen mögliche Massnahmen zu besprechen.

Gehört zu diesen Massnahmen auch das Vermeiden von Nacht- und Schichtarbeit?

Das ist – sowohl bei Arbeitgebenden als auch bei Arbeitnehmenden – eine verbreitete Angst, die jedoch unbegründet ist. In den allermeisten Fällen lassen sich Lösungen finden, die Nacht- und Schichtarbeit nicht ausschliessen.

Welcher wäre der zweite Bereich?

Der Mutterschutz. Im Rahmen des gesetzlich geforderten Sicherheitskonzepts müsste für jeden Arbeitsplatz im Spital eine Risikobeurteilung gemacht werden. Diese legt unter anderem fest, ob eine Frau, die schwanger ist oder dies werden möchte, diese Arbeit ausführen darf oder nicht. So sind etwa Reanimationen, Nachtarbeit oder der Kontakt mit infektiösen Patientinnen und Patienten nicht mehr möglich. Auch sollten diese Frauen nicht länger als zwei Stunden am Stück stehen.

Dies bedeutet, dass Frauen bereits die Planung einer Schwangerschaft melden müssten. Ist das nicht etwas illusorisch?

Im Moment ist das sicher noch nicht Usus, viele geben eine Schwangerschaft sogar erst nach der zwölften Woche bekannt. Zum einen besteht die – an manchen Orten sicher nicht ganz unbegründete – Angst, dass Frauen, die eine Familie planen, an ihrer Weiterbildung gehindert oder zumindest nicht mehr gefördert werden. Zum anderen wollen viele Frauen nicht unkollegial wirken. Es bestehen aber Risiken für werdende Mütter. Deshalb sollten Vorgesetzte jede Frau bereits im Anstellungsgespräch über Gefährdungen und entsprechende Massnahmen informieren. Wenn der Prozess sauber geklärt ist, ist es auch für die Arbeitnehmerinnen einfacher, die eigenen Rechte einzufordern. Und es gibt durchaus gute Alternativen, um in der Weiterbildung trotzdem vorwärtszukommen. Für eine flächendeckende Umsetzung ist mancherorts sicher noch ein Umdenken nötig. Ich bin aber guter Hoffnung, denn eine gute Vereinbarkeit macht einen Arbeitgebenden attraktiver – und das wird aufgrund des Fachkräftemangels immer wichtiger für die Betriebe.

Sie hatten vorhin von drei Bereichen gesprochen.

Genau, der dritte Bereich ist die Ergonomie. Für die digitale Transformation werden hohe Beträge investiert, aber die ergonomische Begleitung dieser Projekte wird oft vernachlässigt. Dabei wären die dafür nötigen Investitionen vergleichsweise gering – und lohnen sich. Denn wenn Bildschirmarbeitsplätze falsch eingerichtet sind, können Fehlbelastungen und Beschwerden am Bewegungsapparat entstehen.

Warum wird in manchen Spitälern denn noch zu wenig gemacht?

Ich will niemandem böse Absicht unterstellen. In vielen Spitälern liegt der Fokus auf dem operativen Geschäft, und es fehlt an Ressourcen. Auch haben nicht alle Spitäler angestellte Arbeitsmedizinerinnen oder ‑mediziner, die sich um die Arbeitssicherheit kümmern. Eine lohnende Investition ist in diesen Fällen die H+-Branchenlösung Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz (siehe Kasten, Anm. d. Red.). Denn eine verbesserte Arbeitssicherheit reduziert nicht nur die Absenztage, sondern steigert auch Wohlbefinden und Produktivität.

Branchenlösung unterstützt beim Schutz des Personals

Arbeitgebende müssen ihre Mitarbeitenden schützen. Um dies wirkungsvoll und effizient umsetzen zu können und die gesetzlichen Vorschriften zu erfüllen, ist Fachwissen nötig. Die H+-Branchenlösung Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, deren Träger der Spitalverband H+ ist und hinter der auch der vsao steht, bietet Unterstützung bei einer nachhaltigen Umsetzung von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz im Betrieb. Neben vielfältigen Informationen, Weiterbildungen und Beratungen bietet sie auch eine Datenauswertung, um spitalinterne Risikobereiche zu identifizieren.
Schweizweit sind etwa 260 Betriebe des Gesundheitswesens der Branchenlösung von H+ angeschlossen.
www.hplus.ch/de/arbeitssicherheit

Inwiefern können sich Ärztinnen und Ärzte selbst für ihren Gesundheitsschutz einsetzen?

Ärztinnen und Ärzte haben das Recht, bei Gefährdungen Stopp zu sagen und die Arbeit zu unterbrechen, bis die Gefahr behoben ist. Ebenfalls sollten sie ihre Vorgesetzten – wenn es sein muss auch mehrmals – über Risiken und fehlende Sicherheitsmassnahmen informieren. Falls dies nicht genügt, können sie sich an ihren Arbeitnehmerverband, beispielsweise den vsao, wenden. Wenn auch das nicht zu einer Lösung führt, wäre als letztes Mittel auch eine – falls gewünscht anonyme – Meldung ans Arbeitsinspektorat möglich. Bei Ärztinnen und Ärzten gibt es teilweise aber noch ein anderes Problem.

Das wäre?

Bei der eigenen Gesundheit haben viele Ärztinnen und Ärzte einen blinden Fleck und muten sich selbst mehr zu, als sie dies bei anderen tun würden. Ein Beispiel dafür ist der Präsentismus, also dass viele auch dann arbeiten gehen, wenn sie krank sind. Auf Dauer lohnt sich das jedoch nicht. Auch die eigene Gesundheit sollten wir ernst nehmen.

Zur Person

Ursprünglich als Hausarzt tätig, bildete sich Leonhard Sigel ab 2003 zum Arbeitsmediziner weiter, da ihn neben der guten Vereinbarkeit mit der Familie auch die Präventivmedizin sowie die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen reizte. Er war in verschiedenen Spitälern tätig und arbeitet heute bei der Abteilung Sicherheit, Gesundheit und Umwelt der ETH Zürich als Arbeitsmediziner. Ebenfalls vertritt er den vsao in der Fachkommission Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz des Spitalverbands H+.