• Forschung und Praxis

Geschlechtsspezifische Aspekte in der Pharmakotherapie

Wie eine Therapie wirkt, hängt auch vom Geschlecht ab. Doch obwohl das Bewusstsein dafür steigt, bestehen nach wie vor Forschungslücken, und es fehlt an klaren Vorgaben und politischem Willen zur Umsetzung geschlechtersensibler Praktiken.

Stimmt die Dosis? Literaturreviews zeigen, dass Frauen in vielen Fällen von niedrigeren Medikamentendosierungen profitieren würden. Bild: Adobe Stock / Lena Ivanova
Stimmt die Dosis? Literaturreviews zeigen, dass Frauen in vielen Fällen von niedrigeren Medikamentendosierungen profitieren würden. Bild: Adobe Stock / Lena Ivanova

Obwohl heutzutage eindeutig nachgewiesen ist, dass das Geschlecht in der Pharmakotherapie eine Rolle spielt, hat das medizinische System in der Vergangenheit und bis jetzt Schwierigkeiten gehabt, diese Erkenntnisse zu integrieren. Von der Arzneimittelentwicklung und den klinischen Studien bis hin zur behördlichen Aufsicht und Vermarktung sieht sich die Gendermedizin mit systemischen und politischen Hindernissen konfrontiert.

Beispiele physiologischer Unterschiede

Pharmakokinetik
Die Pharmakokinetik (PK) – Resorption, Verteilung, Metabolismus und Exkretion – kann aufgrund biologischer Geschlechtsunterschiede variieren. Diese Unterschiede sind derzeit zum Teil gut belegt, aber insgesamt noch unvollständig erforscht.

  • Resorption: Die Magenentleerungs- und die Darm-Transit-Zeit sind bei Frauen länger als bei Männern, sodass Substanzen tendenziell später ihre Tmax erreichen. Bei Retard-Präparaten ist die Absorption grösser aufgrund der verlängerten Verweildauer im Dünndarm. Auch der Magen-pH ist bei Frauen höher, was einen Einfluss auf die Resorption pH-abhängiger Wirkstoffe hat.
  • Verteilung: Aufgrund eines unterschiedlichen Verhältnisses von Fett- zu Muskelmasse sowie hormonell bedingter Variationen des Wassergehalts können Spiegelschwankungen von Arzneimitteln entstehen. Auch die Proteinbindung kann bei Frauen und Männern unterschiedlich sein, was zu einer veränderten Exposition gegenüber der aktiven, freien Fraktion führt. Zudem haben Frauen generell ein geringeres Körpergewicht.
  • Metabolismus: Während Frauen die Cytochrom-P450-(CYP-)Enzyme 3A4 und 2B6 mehr exprimieren als Männer, haben sie zugleich eine niedrigere Expression der CYP 1A2, 2D6 und 2E1. Die Folge davon ist eine veränderte Exposition gegenüber Substraten dieser Enzyme.
  • Exkretion: Vor allem renal eliminierte Arzneimittel verbleiben bei Frauen länger im Organismus, weil die glomeruläre Filtration und die tubulären Prozesse bei Männern stärker ausgeprägt sind.

Pharmakodynamik
Die Pharmakodynamik (PD) – die Wirkung des Arzneimittels auf den Körper – weist ebenfalls geschlechtsspezifische Unterschiede auf. Mit fortschreitender molekularer Forschung werden immer mehr geschlechtsspezifische PD-Unterschiede entdeckt – beispielsweise in der Rezeptorexpression, der Signaltransduktion oder der Ionenkanalfunktion. Zudem gibt es ebenfalls hormonelle Einflüsse auf die Rezeptorfunktion bzw. ‑empfindlichkeit. Diese können die Unterschiede in der Wirksamkeit und dem Nebenwirkungsprofil zumindest teilweise erklären.

Klinische Relevanz und Dosierungsproblematik

Dosierung, Wirksamkeit und Toxizitätsprofil wurden in der Vergangenheit anhand von Daten extrapoliert, die überwiegend von Männern stammen. Daher erhalten Frauen im Verhältnis zu ihrem PK-Profil oft erhöhte Dosen, was teilweise erklären könnte, warum Frauen häufiger unerwünschte Wirkungen erleiden. Eine Erkenntnis aus verschiedenen Literaturreviews war, dass Frauen in den meisten klinischen Studien oft von niedrigeren Dosen profitieren würden. Solange solche Unterschiede nicht proaktiv untersucht und in den Arzneimittelinformationen berücksichtigt werden, werden Ärztinnen und Ärzte selten angewiesen, die Dosierung an das Geschlecht anzupassen.

Historische und strukturelle Ursachen

Nach der Thalidomid-Tragödie – in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren kam es in Deutschland nach der Einnahme eines Beruhigungsmedikaments mit dem Wirkstoff Thalidomid in der frühen Schwangerschaft vermehrt zu Dysmelien und Amelien bei Neugeborenen – wurde in Richtlinien empfohlen, Frauen «in gebärfähigem Alter» von (frühen) klinischen Studien auszuschliessen. Obwohl gut gemeint, vergrösserte sich damit die Wissenslücke. Auch nach Aufhebung dieser Richtlinien in den 1990er-Jahren blieben diese Umstände bestehen. Aktuell sind in vielen Phase-I- und Phase-II-Studien Frauen immer noch unterrepräsentiert.
Sogar die präklinische Forschung stützt sich traditionell auf männliche Zellen und männliche Tiermodelle, unter anderem um die Auswirkungen des weiblichen Hormonzyklus zu vermeiden.
Ein weiteres Hindernis ist das Fehlen geschlechtsspezifischer Subgruppenanalysen der Daten, selbst wenn diese vorhanden wären. Hier ist auch anzumerken, dass Fachzeitschriften diese Subgruppenanalysen meistens nicht verlangen.
Kurz gesagt hat man oft Medikamente für Männer entwickelt und die Ergebnisse auf Frauen übertragen, was zu suboptimalen Ergebnissen führte.

Warum bestehen diese Lücken weiterhin?

Das Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft hat dazu geführt, dass Geschlecht und Gender historisch unterschiedlich berücksichtigt werden. Gesellschaftliche und kommerzielle Prioritäten können auch einen Einfluss haben, wie z. B. das langsame FDA-Zulassungsverfahren für das Abtreibungsmedikament Mifepriston (ca. vier Jahre) im Vergleich zur schnellen FDA-Zulassung (ca. sechs Monate) des Potenzmittels Sildenafil (Viagra®) in den USA.
Regulierungs- und Gesundheitsbehörden haben begonnen, auf diese Problematik zu reagieren. In den letzten Jahren wird ein geschlechts- und genderspezifischer Ansatz in allen Phasen immer mehr gefordert, von der Grundlagenforschung bis zum Postmarketing. Das bedeutet, dass in Studien ausgewogene Kohorten rekrutiert, die Ergebnisse nach Geschlecht analysiert und geschlechtsspezifische Faktoren wie Adhärenz berücksichtigt werden müssen. Allerdings kann selbst dort, wo Vorschriften existieren, deren Durchsetzung uneinheitlich sein. Es wird z. T. argumentiert, dass die Durchsetzung dieser Vorschriften erst dann realisiert wird, wenn die regulatorischen Behörden diese als obligatorisch für die Zulassung erachten.

Fazit

Die wichtigste Botschaft für Personal im Gesundheitswesen lautet, dass die medikamentöse Therapie von vielen Faktoren beeinflusst wird, darunter auch massgeblich durch Geschlecht und Gender. Eine patientenorientierte Medizin verlangt, dass bei der Auswahl und Dosierung von Therapien diese Faktoren mitberücksichtigt werden. Die Überwindung der Hindernisse für eine gendergerechte Medizin erfordert nicht nur wissenschaftliche Tätigkeit, sondern auch den politischen Willen, inklusive Praktiken auf gesellschaftlichem und individuellem Niveau durchzusetzen.

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